Die afrikanischen Migranten, die Italien des Menschenschmuggels bezichtigt

bbc.com – In unserer Reihe Briefe von afrikanischen Journalist*innen trifft Ismail Einashe einen jungen Senegalesen, der, nachdem er selbst die Überfahrt über das Mittelmeer überlebt hatte, beschuldigt wurde, Menschen zu schmuggeln.

Der Sechzehnjährige aus Senegal war erleichtert, sicher auf Sizilien angekommen zu sein, wo er dachte, in einem Erstaufnahmezentrum für Migrant*innen untergekommen zu sein. All dies ereignete sich im Jahre 2015, nachdem er eine risikoreiche Bootsreise von Libyen aus überlebt hatte. Doch zwei Tage nach seiner Ankunft wurde er unruhig, als die Türen zu seinem Zimmer verschlossen blieben.

Tatsächlich befand sich Moussa, dessen Name zum Schutz seiner Identität geändert wurde, ohne sein Wissen in einem Gefängnis in Trapani, einer Hafenstadt im Westen der italienischen Insel. „Das kann nicht sein. Ich bin bis nach Italien gekommen und direkt im Gefängnis gelandet. Ich bin 16“, dachte er sich. Er konnte nicht glauben, was ihm passiert war. Das war nicht das Europa, von dem er geträumt hatte, bevor er auf seine beschwerliche Reise aus dem Senegal aufgebrochen war auf der Suche nach einem besseren Leben.

Moussa würde am Ende wegen des Verdachts auf Menschenschmuggel fast zwei Jahre in einem Gefängnis für Erwachsene verbringen, obwohl er minderjährig war. Und sein Fall ist bei Weitem nicht der einzige.

In den letzten zehn Jahren wurden in Italien laut einem neueren Bericht der NGO Arci* Porco Rosso aus Palermo aufgrund derselben Vorwürfe mehr als 2.500 Menschen verhaftet.

Die in Italien Verhafteten werden beschuldigt, Beihilfe zur illegalen Migration zu leisten, eine Straftat, die mit bis zu 20 Jahren Gefängnisstrafe sowie hohen Strafzahlungen geahndet werden kann.

 

„Als Sündenböcke benutzt“

Hunderte von unschuldigen Migranten sind derzeit eingesperrt und warten auf den Abschluss ihres juristischen Verfahrens laut Maria Giulia Fava, eine Anwaltsgehilfin, die den Bericht mitgeschrieben hat.

Sie sagt, dass Italien Gesetze zum Menschenschmuggel dazu nutzt, um Migrant*innen und Geflüchtete zu kriminalisieren, um sie als Sündenböcke für die Einwanderungszahlen zu benutzen.

Sie fügt hinzu, dass Anklage gegen Migrant*innen oft auf einer äußerst schwachen Beweislage erhoben wird. Zudem sind Gerichtsverhandlungen selten offen zugänglich. Es gibt einen Mangel an adäquatem Zugang zu Rechtsverteidigung. Beweisführung kann auf unzuverlässigen Zeug*innenaussagen basieren und Minderjährige können nach Erwachsenstrafrecht verurteilt werden.

Cheikh Sene kennt das System gut. Er organisiert nun Aktivitäten in der senegalesischen Community in Siziliens Hauptstadt Palermo. Jedoch verbrachte auch er zwei Jahre im Gefängnis, nachdem er der Beihilfe zum Menschenschmuggel für schuldig gefunden wurde. Sene sagt, dass viele Migranten unrechtmäßig im Gefängnis sitzen, nur weil sie Leben auf See gerettet haben. Er sagt, dass es das ist, was ihm geschehen ist.

Arci* Porco Rosso stellt in seinem Bericht auch fest, dass es auf Fälle gestoßen ist, in denen italienische Polizist*innen Migrant*innen Papiere anboten, im Austausch gegen deren Zeug*innenaussage gegen einen beschuldigten Bootsführer.

Das italienische Justizministerium sagte der BBC, dass es keine Informationen zu Gerichtsverhandlungen oder Festnahmen geben könnte, aber stellte Daten zu den Menschen zur Verfügung, die derzeit aufgrund der Anklage aufgrund von Menschenschmuggel in Gefängnissen sitzen. Stand 22. März gibt es 952 Insass*innen, von denen 562 in Italien für Menschenschmuggel verurteilt wurden.

Das Ministerium kommentierte jedoch nicht die Anschuldigungen, die im Bericht von Arci* Porco Rosso erhoben wurden.

 

„Minderjährige in Erwachsenengefängnissen“

In Moussas Fall durfte er, als sein Boot in Trapani angelegt hatte, an Land gehen und wartete mit anderen Angekommenen am Hafen auf einen Bus, der sie in Stadt bringen sollte. Doch als er dort stand, wurde er von einem italienischen Beamten herübergerufen.

 

Zurückgelassene Kleidung von Migrant*innen, die das Meer überquert haben, kann an Siziliens Stränden gesehen werden. (Foto von Kate Stanworth)

 

„Sie baten mich, ihnen nach innen zu folgen. Sie gaben mir ein Blatt Papier und machten eine Fotoaufnahme. Dann setzten sie mich in ein großes Auto und fuhren mich weg. Die Fahrt dauerte länger als zwei Stunden und dann brachten sie mich in ein Büro.“

Das Büro stellte sich als eine Polizeistation heraus, wo er mithilfe einer französischsprachigen marokkanischen Dolmetscherin befragt wurde. Sie erklärte ihm, dass zwei seiner Mitreisenden auf dem Boot ihn beschuldigt hätten, das Boot zu lenken. Er bat darum, dass ihm gesagt wurde, um wen es sich bei den beiden Menschen handeln würde, da er die Anschuldigung nicht verstehen konnte. Aber sie sagte ihm, dass sie eine Dolmetscherin und keine Anwältin sei.

Am nächsten Morgen wurde er in ein Polizeiauto gesetzt. „Ich wusste nicht, dass ich in ein Gefängnis gebracht wurde. Ich dachte es wäre ein Erstaufnahmezentrum.“

Er versuchte zu erklären, dass er minderjährig sei. Im Gefängnis wurden zwei Untersuchungen durchgeführt, um sein Alter festzustellen. Eine ergab, dass er minderjährig sei, die andere nicht. Da das Ergebnis uneindeutig war, wurde er in ein Erwachsenengefängnis gebracht. Und er erzählt, dass er kein Einzelfall sei. Er erinnert sich an andere junge afrikanische Migranten in seinem Alter und jünger, die mit ihm im Gefängnis saßen.

Er erinnert sich daran, viele Gambier, Tunesier, Nigerianer und Malier getroffen zu haben.

 

Der verpasste Tod des Vaters

Es vergingen neun Monate, bis er seine Familie im Senegal anrufen konnte, die bis dahin vermutet hatten, dass er tot war. Einige Monate später, während eines zweiten Anrufs, erfuhr er, dass sein Vater verstorben war.

Im Gefängnis war es ihm immerhin möglich, sich auf die Mittlere Reife vorzubereiten und er träumte davon, aus dem Gefängnis zu entkommen. Im Frühling 2017 bekam Moussa dann endlich einen Anhörungstermin in Palermo. Doch als er in den Gerichtssaal trat, stand der Richter auf und sagte, dass er nicht den Vorsitz in einem Fall, der einen Minderjährigen betrifft, führen könnte. Drei Tage später, in dem frühen Morgenstunden kamen Wächter zu seiner Zelle und sagte ihm, dass er seine Sachen zusammenpacken solle, da er entlassen würde.

„Sie brachten mich zur Türe und schlossen sie hinter mir. Ich stand da mit meinen Kleidern in einem Plastikmüllbeutel.“ Er hatte keine Idee, wo er hingehen sollte und einer der Wächter riet ihm die Straße entlangzugehen, bis er andere Afrikaner*innen fand, die er um Rat bitten konnte, was er tun solle.

In dieser Nacht kam er am Piazza Vittoria Platz in Trapani an. Dort traf er einige Senegalesen, die ihm sagten, er solle nach Volpita gehen, einem Migrant*innen-Camp. Moussa verlies schließlich Volpita, nachdem er gehört hatte, dass er woanders Geld verdienen konnte, indem er Oliven pflückte..

Nachdem er viele Monate mit Arbeiten verbracht hatte, ließ er sich in der beliebten Tourist*innenstadt Cefalù in der Nähe von Palermo nieder, wo er nun als Koch in einem Restaurant arbeitet. Doch sein Fall wurde immer noch nicht bearbeitet, sodass er in einem aufreibenden juristischen Schwebezustand lebt. Seine Papiere sind abgelaufen und er wartet auf einen neuen Gerichtstermin.

Als Moussa seine missliche Lage sechs Jahre nach seiner Ankunft in Italien erklärt, überwältigt ihn die Situation – traumatisiert von dem, was ihm widerfahren ist. Er möchte einfach, dass der Albtraum ein Ende nimmt.

 

Ismail Einashe

 

*Arci: Associazione ricreativa e culturale italiana – Verband der Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, Menschenrechten und Wohlfahrt

 

Aus dem Englischen übersetzt von Annika Schadewaldt