Cassibile, das Spektakel der Ausbeutung

Artikel vom 07. Mai 2021

Die Eröffnung des Camps in Cassibile wurde durch die Festtagsreden der Vertreter*innen von Institutionen und die rassistische Wut der Einheimischen erzählt.

Wir waren ganze Tage in Cassibile (Syrakus) – auf den Felder und auf den Straßen der Stadt – und haben den Stimmen der Wanderarbeiter*innen zugehört, um auf die Ausbeutung der Arbeitskräfte, die in Sizilien üblich geworden ist, aufmerksam zu machen.

 

Worte rund um das Lager

Am Freitag, den 30. April, einen Monat später als angekündigt, begann das offizielle Camp von Cassibile endlich Erntehelfer*innen aufzunehmen – „kleine Häuser“, „Erntehelferdorf“, „Herberge“ für Migranten*innen sind verschiedenen Formulierungen, die von der Presse und den Politiker*innen verwendet werden. Natürlich kann nicht jede*r hier bleiben, nur diejenigen, die einen Arbeitsvertrag, ein Ausweisdokument und eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Nicht alle, denn wie wir bereits berichtet haben, reichen die Plätze nicht einmal im Entferntesten aus, um alle Erntehelfer*innen unterzubringen, die in diesen zwei Monaten in Cassibile angekommen sind. Es sollten 120 Plätze sein, was schon zu wenig war; nun sind es nur 68 geworden (17 Container mit je vier Plätzen), um die Infektionsschutzgesetze zu erfüllen.

Um zu verstehen, was in Cassibile auf dem Spiel steht, müssen wir auf die Worte hören, die im letzten Monat und besonders in den letzten Tagen immer dichter geworden sind. Und dann müssen die mit den Fakten verglichen werden, mit der Materialität des täglichen Lebens der Menschen, die das Land im Osten Siziliens bearbeiten. Die Presse hat die Aussagen von Politikern*innen und der Vertreter*innen der Institutionen sowie die Wut der Bewohner*innen von Cassibile hervorgehoben. Wir haben das alles gesehen, indem wir tagelang in Cassibile geblieben sind und den Stimmen der Erntehelfer*innen zugehört haben.

Der Tag, der von dieser ganzen Geschichte in Erinnerung bleiben wird, und der bereits in der lokalen und nationalen Presse umgegangen ist, ist Donnerstag, der 29. April, das Datum der Einweihung des Lagers. „Ein Beispiel gegen die illegale Anwerbung unterbezahlter Landarbeiter“, „Cassibile ist eine Realität der Integration“, „die Bewohner*innen von Cassibile und die Erntehelfer*innen haben es verdient“, gratulieren sich Gemeinde und Präfektur von Syrakus, sowie die Region, während der Pressekonferenz zur Einweihung des Camps, in Anwesenheit des Leiters der Abteilung für bürgerliche Freiheiten des Innenministeriums, Michele Di Bari, der rechten Hand von Ministerin Lamorgese, zuständig für die Organisation der Aufnahme der in Italien ankommenden Migranten*innen, die sich in der Praxis aber in  Eindämmung und Unterdrückung, ausdrückt.

Das Lager hat 242.000 Euro gekostet und wird von dem Betreiber Passwork und dem Roten Kreuz verwaltet, die auch bei der Einweihung anwesend waren. Diejenigen, die hier leben werden, haben keine Möglichkeit selbständig zu kochen, aber es werden einmal täglich Mahlzeiten serviert. Es wird auch ein Shuttle-Service eingerichtet, der die Erntehelfer*innen zu den Feldern bringt, aber der Vertrag mit der Firma, die den Service betreibt, ist noch nicht unterzeichnet. „So besiegen wir die Illegalität“, hieß es bei der Einweihung. Aber jetzt ist es spät in der Saison und die Organisationen werden das Camp nur zwei Monate lang verwalten, zumindest eine begrenzte Perspektive.

Die leitenden Vertreter*innen der Institutionen haben jedoch das Camp als die Lösung der Probleme aller präsentiert: der Erntehelfer*innen und der Bewohner*innen von Cassibile. Stattdessen haben im Viertel Palazzo, wo sich das Camp befindet, etwa fünfzig Bewohner*innen einen Protest organisiert haben, die mit Shirts und Schildern „#NoVillaggio – Kein Erntehelferdorf“, „Weniger Ghetto, mehr Integration“, „Mehr Dienstleistungen für die Bürger*innen“ umherzogen, während hinter ihnen ein Banner „Scheiß-Italien schäm dich“ stand. Das Banner konnte, zumindest anfangs, auch eine gewisse Ironie hervorrufen, da an der Spitze der Gruppe ein politischer Exponent der nationalistischen Rechten und ein Vertreter des Komitees „Giovani Cassibilesi“ – Jugend von Cassibile –,  ausgestattet mit Maske in Nationalfarben und italienischer Flagge, mit den gleichen politischen Ideen, standen. Aber der Humor endet, wenn man die Worte des Zorns dieser Bewohner*innen hört, die wütend auf einen Staat sind, der die Straßen des Viertels nie asphaltiert hat, wo seit fünfzig Jahren Versprechungen gemacht werden, ohne dass sie eingehalten werden.

Das Unbehagen ist real, aber die Politik nutzt es in jedem Fall aus. Und so haben die Lokalpolitiker*innen begonnen, die Flammen des rassistischen Hasses zu schüren: „Lösen Sie zuerst die Probleme der Anwohner*innen“, „wir wollen sie nicht hier haben“. Der Protest gegen das Camp ist zu einem Vorwand geworden, um die Wanderarbeitern*innen, die seit zwanzig Jahren die unverzichtbaren Arbeitskräfte eines großen Teils des sizilianischen Agrarsektors sind, anzugreifen. Die Politiker*innen nehmen ein reales Unbehagen – die Vernachlässigung der Stadtränder und des Südens durch die Institutionen – und verwandeln es mit rhetorischen Pirouetten in eine Kundgebung voller Chauvinismus und zur Verteidigung der Bosse, zum Schaden sowohl der Arbeiter*innen im Allgemeinen als auch der ausländischen Arbeiter*innen.

Und so kam es zu Momenten der Hochspannung. Während die Polizei den Eingang zum Camp versperrte, um zu verhindern, dass Demonstrant*innen die Einweihung stören, kam eine CGIL*-Vertretung mit einer Fahne an und wurde von der Menge angegriffen und dann von den vor Ort anwesenden Beamten der Digos* entfernt. Die Arbeiterschaft blieb daher bei dieser Einweihung ohne Vertretung.

Spannung und bald, da sind wir uns leider ziemlich sicher, auch Angst werden die Oberhand gewinnen.

Das Camp befindet sich tatsächlich am Ende des Viertels Palazzo. Es kann nur erreicht werden, wenn man die Hauptstraße des Viertels durchquert, in dem die Demonstrant*innen leben. Die Erntehelfer*innen sehen sich daher gezwungen, mehrmals am Tag einen feindlichen Ort zu durchqueren. Und ein erster Beweis, wie diese Struktur zur Geisel des Zorns werden kann, ist bereits in der Nacht vor der Einweihung erbracht worden. Die Abwasserrohre, die das Viertel und das Camp mit dem Rest der Stadt verbinden, wurden sabotiert, was dazu führte, dass in der Nähe des Platzes, an dem ein paar Stunden später die Vertreter*innen der Institutionen sich ein Stelldichein geben würden, Abwasser auslief.

Die 24-Stunden-Bewachung der Einrichtung, die als Recht der Wanderarbeiter*innen dargestellt wurde, ist also in Wirklichkeit das Ergebnis der wachsenden Spannungen in der Nachbarschaft und der unglücklichen Platzierung des Camps. Das Ergebnis, das bereits ziemlich offensichtlich ist, ist, dass eine Situation geschaffen wird, in der humanitäre Interventionen mit Überwachungspraktiken vermischt werden, die an Inhaftierung grenzen, wie es überall geschieht, wo Notlösungen als Antwort auf strukturelle Probleme gegeben werden.

„Lasst uns den Arbeiter*innen ihre Würde geben“, sagen sie. Und doch scheint es mehr und mehr so zu sein, dass sie als fügsame Körper behandelt werden, die jeden einzelnen Moment des Tages kontrolliert werden müssen: vom Bett bis zum Feld, ohne dass jedoch eine umfassende Kontrolle der Einhaltung der vertraglichen Regelungen dort vorgesehen ist, wo sie arbeiten werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Arbeiter*innen auf diesen Ansatz bisher mit Misstrauen reagiert haben, trotz der völlig katastrophalen Wohnverhältnisse, mit denen sie im letzten Monat zu kämpfen hatten.

„Wir haben Ramadan, wir wollen gemeinsam kochen und essen können, und im Camp können wir das nicht“, sagen einige Wanderarbeiter*innen, die nicht wie Kinder behandelt werden wollen. „Was ist das hier, ein Gefängnis?“, fragen sie. Sie setzen sich mit Nüchternheit und einem Wermutstropfen mit dieser Öffnung, über die sie weder gefragt noch eingeladen, oft nicht einmal gewarnt wurden, auseinander, „in Cassibile gibt es keine Gesetze für Wanderarbeiter*innen „. Einige von ihnen versuchten während der Einweihung, sich dem Lager zu nähern, nicht um zu feiern, sondern um sich für das Camp zu registrieren, aber sie wurden von der Polizei abgewiesen, „zu Ihrem eigenen Besten“.

 

Ausgebeutete Arbeit, innerhalb oder außerhalb des Lagers

Hinter dem Spektakel dieser Bühne, auf der Institutionen und Volksführer vorbeigezogen sind, hinter der vorgetäuschten Ordnung eines „Ghettodorfes“, in dem die Rhetorik von Sicherheit und Legalität sowie rassistische und fremdenfeindliche Slogans Platz finden, gibt es weiterhin Wanderarbeiter*innen, die jeden Tag, zwei Monate lang – inmitten regionaler und nationaler Propaganda über das Camp des Viertels Palazzo – die Erntesaison am Laufen halten.

Jene Migranten*innen, die auf den Feldern im Osten Siziliens Kartoffeln, Fenchel und Möhren ernten. Jene Migranten*innen, die jeden Tag um fünf Uhr morgens – ob sie nun aus dem offiziellen Camp, aus gemieteten Häusern oder aus den Höhlen, in denen sie Zuflucht suchen, kommen – zur Hauptstraße des Dorfes gehen und dort rekrutiert und in die Transporter der „Caporali*“ verladen werden, bleiben unsichtbar, außerhalb des Rampenlichts.

Ob sie sich in den Maschen des humanitären Aufnahmesystems des Camps verfangen oder in den informellen Zwischenräumen der Selbstorganisation befinden, Migranten*innen sind mit Arbeitsausbeutung konfrontiert.

Aus den Erzählungen der Arbeiter*innen haben wir rekonstruiert, dass das Tagessoll ihrer Arbeit beim Verladen von etwa 100 Kisten à 20 kg liegt, bei einem Lohn zwischen 30 und 40 Euro pro Tag für etwa 9/10 Arbeitsstunden. Dies geschieht oft durch die Zahlung von fiktiven Löhnen für Arbeitsstunden, die nicht der Realität entsprechen, so dass das Geld, das die Erntehelfer*innen erhalten, immer geringer ist als das was ihnen zusteht.

Es ist die so genannte graue Arbeit – anders als die echte informelle Arbeit – die in der Gegend von Syrakus vorherrscht. Es handelt sich um ein konsolidiertes System unter den lokalen Unternehmen, mit wenigen Ausnahmen, dass die Arbeit inoffiziell und ohne Vertrag vermeidet, aber trotzdem auf Missbrauch und Verletzung der Rechte basiert.

Einen Arbeitsvertrag zu haben, bedeutet nicht Respekt der Regeln und fairer Lohn. Auch die regulär angestellten Erntehelfer*innen werden mit einer weiteren Kürzung ihres Lohns weiter ausgebeutet: nämlich mit dem Geld, das sie den Caporali für die Kosten der Transportleistungen schulden (von 3 bis 7 Euro). Geld, das dem Akkordlohn für jede gefüllte Kiste abgezogen wird.

„Schnell, schnell!“, sagen die Caporali zu den Erntehelfer*innen, die auf den Feldern Kisten füllen. Wer beim Rhythmus der Ausbeutung nicht mithält, ist raus: schnell bei der Arbeit, schnell beim Verlassen des geräumten informellen Camps, schnell bei der Suche nach einem Schlafplatz im Dorf, schnell beim erneuten Aufbruch zu einer anderen Etappe der Saison, schnell beim Vergessen der Verletzungen, die an ihnen begangen werden. Von Migranten*innen wird sofortiger Gehorsam verlangt, wie von Lasttieren.

Das offizielle Camp wird diese strukturellen Bedingungen nicht ändern. In diesem seit Jahren etablierten System werden Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Arbeitskräften ungestört stattfinden, weil kein Interesse daran besteht, sie zu bekämpfen. Wenn überhaupt, dann ist die Absicht, es zu kontrollieren und zu verwalten.

Ausgeschlossen aus oder eingeschlossen im Camp, sind die Migranten*innen weiterhin Opfer eines kriminellen Systems, denn das „Dorf“ von Cassibile ist nicht dazu da, die Illegalität zu bekämpfen, sondern seine ausgebeuteten Bewohner*innen zu disziplinieren und zu kontrollieren, die Wandarbeiter*innen, die jedes Jahr die Stadt durchqueren, innerhalb einer legitimen und normierten institutionellen Struktur einzuordnen, um die migrantische Menschheit wieder einmal vor den Augen derer zu verbergen, die sie nicht sehen wollen.

Auf diese Weise wird das Lager alles andere als ein „Beispiel für Integration“ sein und keine Legalität garantieren. Es wird stattdessen die Marginalisierung der Migrant*innen begünstigen, die von Institutionen und Rassist*innen ausgebeutet werden, von Caporali und Bossen ausgebeutet werden, als zu disziplinierende Arbeitskräfte verwaltet werden, die von Entscheidungen, die sie betreffen, ausgeschlossen werden, ihrer Würde und ihres Schutzes beraubt werden.

 

Schwacher Staat in Zusammenspiel mit den Starken

In weniger als einem Monat ist der Todestag von Siddique Adnane, einem 32-jährigen Pakistaner, der letztes Jahr in Caltanissetta mit fünf Messerstichen getötet wurde, nachdem er die Caporali angeprangert hatte, die seine Landsleuten ausbeuteten. Er war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, der im ländlichen Süditalien sein Leben riskiert. Aber bis jetzt hat er keine Gerechtigkeit erhalten.

Seit Siddiques Tod in Sizilien hat sich die Situation keineswegs geändert. Die Arbeitsausbeutung von Migranten*innen ist nach wie vor ein strukturelles Phänomen, eine kriminelle Dysfunktion des Produktionssystems, die wächst, während der Staat als Komplize die Ausländer*innen weiterhin in juristischer Illegalität und Schwarzarbeit belässt und damit Schikanen und Missbrauch durch die Stärkeren schürt.

Anstatt Mauern und Ghettos zu bauen, die Migranten*innen ausgrenzen, würde es reichen, die Unternehmen zu kontrollieren, die von der Auswahl der Arbeitskräfte profitieren, die die Caporali für sie durchführen, aufzuhören durch den fehlenden Aufenthaltsstatus an kriminalisierten Migranten*innen zu verdienen, die Unternehmen zu sanktionieren, die Sozialbeiträge hinterziehen und die Caporali unterstützen. Wir könnten dann die kurzen, ethischen und nachhaltigen Lieferketten unterstützen, wie es bereits – mit wertvollen und konkreten Projekten – von den vorbildlichen Realitäten des Kampfes gegen diese Illegalität vorgeschlagen wurde.

Stattdessen haben die Medien Rhetorik und Inszenierungen hochgespielt, die einmal mehr Migranten*innen ausgegrenzt haben und die Stimmen zum Schweigen brachten, die in der Lage wären, den dramatischen Ernst dieser normalisierten und akzeptierten Realität deutlich zu machen.

Doch in der Dunkelheit außerhalb des Rampenlichts – in den Außenbezirken der sizilianischen Erntelager, wo die Parolen nicht ankommen – verrotten die Rechte weiter wie Obst in der Sonne.

In Cassibile und auf Sizilien wurde wieder einmal das übliche Spektakel eines Staates inszeniert, der schwach ist und zusammen mit den Starken gegen die Ausgebeuteten wütet.

 

Silvia Di Meo
Emilio Caja
Borderline Sicilia

 

*Caporali: Personen, die die Arbeitskräfte ohne reguläre Arbeitsverhältnisse anwerben

*CGIL: Confederazione Generale Italiana del Lavoro – ein nationaler Gewerkschaftsbund

*Digos: Staatsschutzabteilung der Polizei

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Burkhard Schwetje und Stefania Gavin