Aus Verzweiflung so tun, als ob: „Mama, mach Dir keine Sorgen; ich lebe und bin endlich frei.“

Ich begegne Alpha und Omega (Phantasienamen) bei der Fernbus-Station von Agrigent. Die beiden Jugendlichen sind schlecht gekleidet, mit Badelatschen und in schmutzigen Hosen, mit T-Shirt und zerschlissenem Blouson, in der Hand eine Tüte, wahrscheinlich mit Essen. Sie erregen sofort meine Aufmerksamkeit und ich beobachte sie eine Weile.

Beide haben die gleiche Nationalität. Sie gehen zwischen den Leuten auf dem Platz umher, auf den ersten Blick ohne bestimmtes Ziel. Als sie andere afrikanische Migrant*innen treffen, verweilen sie einen Augenblick, um mit ihnen zu sprechen; dann setzen sie ihren Spaziergang fort. Bis sie einer Gruppe von 4 gut gekleideten Migrant*innen begegnen; diese ziehen ihre Windjacken aus und setzen die Sonnenbrillen ab und reichen sie an Alpha und Omega weiter. Die beiden stellen sich in Pose und lassen Fotos mit sich im Vordergrund machen, nur lächelnd und fröhlich. Kurz nachdem sie die Fotos mit ihren Handys gemacht und die Windjacken und Sonnenbrillen zurückgegeben haben, umarmen Alpha und Omega ihre Bekannten und entfernen sich. Ich konnte nicht anders, als ihnen zu folgen, neugierig gemacht durch die Umstände. Nach wenigen Metern, entfernt von neugierigen Blicken, setzen sich Alpha und Omega auf den Rand des Bürgersteiges und brechen in ununterbrochenes Weinen aus. Sie umklammern ihre Hände, als wollten sie sich über das Geschehene hinwegtrösten. Diese traurige Szene bringt mich dazu, mich den beiden Jugendlichen zu nähern; nachdem die Befangenheit vorüber ist, erklären sie mir, dass sie ausgewiesen wurden, dass sie seit zwei Tagen zwischen der Bahn- und der Busstation auf der Suche nach Hilfe hin- und herschweifen. Da die Mutter von einem der beiden darauf gedrungen hat, Nachricht von ihm zu bekommen, haben sie als Alternative zur Wirklichkeit eine andere Geschichte erfinden müssen, dass ihre Situation gut ist und dass es jetzt für sie ein anderes Leben gibt.
Die aufgenommenen Fotos, ausschließlich mit ihnen in neuen, sauberen Windjacken gekleidet im Vordergrund, mit Sonnenbrillen und strahlendem Lächeln verbergen die bittere Wahrheit von Alpha und Omega und von so vielen anderen Migrant*innen; sie wollen ihre Familien nicht wissen lassen, dass sie auch in Europa zu den Unsichtbaren gehören, dass sie von Italien abgewiesen wurden, dass sie Söhne eines kleinen Gottes sind.
Nachdem ich ihnen einige Informationen gegeben habe, wo sie essen und schlafen können verlasse ich, in größter Sorge, Alpha und Omega. Ich verabschiede mich in der Hoffnung, dass wenigstens ihre Mütter glücklich sind.

Alpha und Omega stehen beispielhaft für den unerträglichen Alltag, den die Migrant*innen, von denen wir beharrlich sagen, dass wir sie „aufnehmen“, am eigenen Leib erfahren. Junge Männer, festgesetzt in einem nicht enden wollenden Fegefeuer zwischen Anwält*innen, die unachtsam sind und oft unvorbereitet, offenkundig rassistischen Mitarbeiter*innen und Beamt*innen der Polizeidirektionen, die die Verwaltungspraxis nicht immer gemäß der Anweisungen des Innenministeriums anwenden oder zu sehr…
Vergangene Woche haben wir in Agrigent und Trapani die Geschichte von einigen jungen Migrant*innen zusammengetragen, die von einer Einrichtung in die nächste verschoben werden, weil das SPRAR*, in das sie eingegliedert waren, geschlossen wurde. Das Zentrum wurde vor einem Monat geschlossen und von der Kooperative Omnia Academy verwaltet, die aus den Nachrichten wegen weiterer grenzwertiger Situationen bekannt ist. Ende des vergangenen Jahres hatte der Verein die CAS* in der Provinz Agrigent schließen müssen, weil das Ordnungsamt der Hauptstadt den Vertrag mit der rückfällig gewordenen Kooperative zurückgenommen hat. Diesmal war die x-te Unregelmäßigkeit um Einiges schwerwiegender, weil eine SPRAR*-Einrichtung darin verwickelt war. Sie wurde vom Bezirksbürgermeister von Palma di Montechiaro, wo die Einrichtung ihren Sitz hat, wegen mangelhafter hygienisch-gesundheitlicher Bedingungen geschlossen. Es fehlte warmes Wasser, Kühlschränke und sogar Wasser drang in die Einrichtung ein.
Nun stellt sich die Frage: Wie hat es die Kooperative geschafft, weiterhin ein SPRAR-Projekt zu führen, wo sie doch von einer gerichtlichen Untersuchung wegen Betrugs zum Schaden des Staates betroffen war und das Ordnungsamt von Agrigent demnach korrekterweise glaubte, dass die Kooperative nicht in der Lage sei, die CAS in der Provinz zu verwalten? Warum ist der Zentrale Dienst* nicht rechtzeitig eingeschritten, um den Umsetzungsstand des Projektes zu überprüfen? Auch diesmal hat man, um ein Zentrum zu schließen, darauf gewartet, dass die Gesundheitsbehörde (ASP*) eingreift, um hygienische Probleme aufzudecken; dagegen war die Aufmerksamkeit für die Qualität der Aufnahme und folglich die Aufmerksamkeit für die Migrant*innen zweitrangig.
Wieder einmal haben die fehlende Kommunikation zwischen den Institutionen und die bürokratischen Unregelmäßigkeiten es erleichtert, das SPRAR-Projekt als profitables Business weiterzuführen. Ein Krebsgeschwür, das immer schwerer zu bezwingen ist.
Aber die Probleme in Agrigent kommen aus Lampedusa. Die Arbeitsweise des Hotspots gleicht der einer Fabrik, die Unsichtbare produziert; dazu werden die Migrant*innen nach ihrer Verlegung per Fähre nach Porto Empedocle sich selbst überlassen, mit dem bekanntgemachten Abschiebeerlass in der Tasche. Die zigste Rechtsverletzung wird vom Polizeipräsidium in Agrigent verübt, das weiterhin die Abgewiesenen in Gegenden aussetzt, die immer entfernter von bewohnten Zentren liegen. Auf diese Art machen sie den Weg, den die Migrant*innen zurücklegen müssen, um die erste nützliche Bahnhaltestelle zu erreichen, immer mühsamer und gefährlicher. Einige Migrant*innen, die wir am Bahnhof in Agrigent getroffen haben, haben uns erzählt, dass man sie zwischen Campofranco und Casteltermini zurückgelassen habe, das heißt, 40Km von Agrigent entfernt. Diese Migrant*innen haben ihre ununterbrochene Reise weiterführen müssen und sind nach drei oder sogar 5 Tagen unter Unwettern und Hunger in Agrigent angekommen. Wie so oft waren darunter manche, die sich verlaufen haben, entweder freiwillig (durch den Kontakt mit ortsansässigen Landsleuten) oder unfreiwillig (geködert von einigen Böswilligen oder von Schleppern). Diese Dinge, die sich jetzt mit dramatischer Regelmäßigkeit wiederholen sind an sich schon schlimm genug; sie werden aber verheerend angesichts des Umstands, dass sich unter den Abgeschobenen oft auch unbegleitete Minderjährige befinden; diese sind als volljährig im Hotspot auf Lampedusa registriert worden und ihnen gelingt es nur dank des stürmischen Eingreifens von tüchtigen Anwält*innen, Schutz zu finden.
Und gerade der Hotspot auf Lampedusa müsste aufmerksamer durch die Institutionen kontrolliert werden; denn neben anderen Dingen verzeichnet man aktuell die Anwesenheit von Personen, die schon seit November 2015 dort sind. Das ist eine Behandlung, die in jeder Hinsicht ohne gesetzliche Grundlage ist. In Folge der Ankünfte in der vergangenen Woche (zuletzt auf Lampedusa 242 Personen aus Gambia, Elfenbeinküste, Senegal, Togo, Mali und Guinea) befinden sich darüber hinaus in dem Zentrum Contrada Imbriacola 444 Personen, darunter 16 Frauen, 89 unbegleitete Minderjährige und 9 Sudanes*innen!
Die 9 Sudanes*innen, die sich seit November auf Lampedusa aufhalten, befinden sich seit 4 Monaten in Beugehaft, weil sie sich weigern, ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. Es befindet sich aber auch eine große Anzahl von Migrant*innen seit mehr als einem Monat unrechtmäßigerweise im Hotspot, die regelgemäß identifiziert wurden. Es gibt aber keinen verständlichen Grund dafür, warum sie nicht in zumutbaren Zeiten verlegt wurden. Dies geschieht in gutem Einvernehmen mit der Betreiberfirma Le Misericordie; denn für sie bedeutet eine größere Zahl von Anwesenden mehr Geld. Die 89 Minderjährigen, seit mehr als einem Monat auf Lampedusa, werden nicht verlegt, weil es schwierig ist, für sie Plätze in adäquaten Zentren zu finden. In der Provinz Agrigent gibt es die höchste Anzahl an Wohngemeinschaften für unbegleitete Minderjährige. Deren Betreibergesellschaften befinden sich in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, weil der Etat der Kommunen immer geringer wird. Vielen Einrichtungen droht die Schließung, da sie auf die Erstattung von Aufwendungen warten, die seit einem Jahr oder mehr im Rückstand sind.
Eine andere Sorge besteht im Hinblick auf die Art, wie Migrant*innen rechtliche Informationen erhalten. Zig Migrant*innen, die von Borderline Sicilia interviewt wurden, erzählten, dass sie nicht wussten, was das („foglio notizie“, der Fragebogen der Präfektur, Anm. d. R.) für ein Papier war, das sie gezwungen wurden, im Hotspot auf Lampedusa zu unterschreiben. Die Menschen, die auf der Insel anlanden, bekommen, kaum dass sie angekommen sind, noch mit dem Geruch des Meeres und des Todes an sich, kollektiv Gesetzesinformationen von den Mitarbeiter*innen des UNHCR* und OIM*. In dem Augenblick, in dem sie den Fragebogen ausfüllen, der ihr zukünftiges Geschick entscheidet, sind sie jedoch alleine mit den Beamt*innen des Polizeipräsidiums und denen von Frontex.
Das Ergebnis ist, dass auf Lampedusa und in der Provinz Agrigent weiterhin Abschiebungen, unrechtmäßige Behandlungen, der fehlende Zugang zum internationalen Schutz und Aussetzungen auf dem Land durchgeführt werden. Alles ungesetzliche Praktiken, die Unsichtbare schaffen, Menschen, die dem Tod entwischt sind und im Tausch dafür nur psychologische Gewalt kassieren, Gleichgültigkeit und Abweisung. So viele traurige, leidende Gesichter, die einem auf den Straßen von Agrigent über den Weg laufen und nicht nur dort.
Auch in Trapani sieht man Leute auf der Straße, die seit langer Zeit auf eine Aufenthaltserlaubnis warten, die nicht kommt, oder auf eine Vorladung in die Regionalkommission oder auch darauf, den Asylantrag formal zu stellen, worauf man auch 5 Monate warten muss. Bürokratische Verzögerungen, die das Leben der Menschen zerstören und unüberwindliche Distanz schaffen zwischen den Migrant*innen und den Mitarbeiter*innen der CAS, die unduldsam sind gegenüber den täglichen Klagen derer, die sich in einer ungewissen Lage befinden. Es herrschen Unverständnis und Mangel an Kommunikation, die oft in Protest münden. Dieser wird vor allem durch Mitarbeiter*innen hervorgebracht, die nicht vorbereitet sind, durch den Großteil der Verwaltungsgesellschaften, die eher den eigenen Profit suchen als das Wohlergehen der Bewohner*innen. Proteste, die sich im hoch spezialisierten Zentrum für unbegleitete Minderjährige von Alcamo in der Via Foscolo wiederholen. Im Unterschied zu dem letzten auffallenden Protest, haben sich die Jugendlichen diesmal nicht auf die Straße begeben sondern haben Tische und Stühle auf den an die Einrichtung grenzenden Bürgersteig gestellt. Die Gründe für den Protest lauten wie folgt: Die nicht durchgeführten Verlegungen, es gibt keinen Zeitplan für die Aktivitäten, die den Bewohner*innen vorgeschlagen werden und es ist unmöglich mit der Umgebung in Kontakt zu treten. In Wirklichkeit ist die Einrichtung ein Parkplatz für die unbegleiteten Jugendlichen, kein hochspezialisiertes Zentrum!
Auch in anderen CAS beginnen Proteste. Viele Mitarbeiter*innen dort kennen die Bedeutung des Akronyms CAS nicht und erklären, dass ihre Arbeitsplätze wie Gefängnisse für Migrant*innen sind. Gleichzeitig haben sie nicht die geringste Vorbereitung, aber viele Vorurteile. Das Personal kommuniziert nicht mit den Bewohner*innen, weil diese, nach ihrer Aussage, stinken und „gesunde“ Träger von Krankheiten sind! Paradoxe Situationen, die grenzwertige Fälle schaffen, wie gewalttätige Reaktionen vonseiten einiger Migrant*innen, die mit der Verlegung und in einigen Fällen mit dem Widerruf des Asylstatus bestraft wurden. Und das kommt dem ultimativen Instrument zur Erpressung gleich, das von einigen Betreibergesellschaften benutzt wird, um die Bewohner*innen einzuschüchtern, damit sie nicht protestieren oder klagen. Dies geschieht unter der Androhung, dass ein Einschreiten der Ordnungskräfte angefordert wird. Der Widerruf des Asylstatus sieht in erster Instanz eine formale Zurechtweisung vor, eine schriftliche Zurechtweisung und dann, nach einer Anzeige, die Verfügung des Widerrufs. In der Gegend von Trapani gibt es viele Migrant*innen, die in Folge dieses Verfahrens auf die Straße gesetzt werden. Sie finden in verlassenen (Land-) Häusern Unterschlupf, bevor sie in die Hände von Schleusern geraten. Diese streifen durch Sizilien auf der Suche nach „Material“, das sie nach Norditalien oder noch weiter bringen können.
In den beiden Provinzen Agrigent und Trapani sind wir illegalen Praktiken begegnet. Trotzdem können wir einen grundlegenden Unterschied hervorheben. Im Hotspot von Milo (Provinz Trapani) sind bis heute mehr als 2000 Migrant*innen identifiziert worden, die auf Sizilien angekommen sind, in Trapani oder anderen Häfen, wie Pozzallo und Augusta. Das System funktioniert recht gut: In höchstens 72 Stunden werden die Migrant*innen wieder verlegt, nachdem allen effektiv die Möglichkeit geboten wurde, Asyl zu beantragen. So wurden seit dem 28. Dezember 2015 (ab diesem Tag wurde das CIE* von Milo zu einem Hotspot umgewandelt) nur 4 Migrant*innen abgewiesen. Diese hatten sich geweigert, Asyl zu beantragen. 79 Migrant*innen wurden in die Villa Sikania (in Agrigent) verlegt, zur Zeit der einzige HUB* auf Sizilien, um ihre Unterbringung in Europa zu veranlassen.
Das Polizeipräsidium von Trapani bestätigt sich aufs Neue als dasjenige auf Sizilien, das den Verfahren und dem Gesetz die größte Aufmerksamkeit entgegenbringt. Das geschieht gemäß des letzten ministeriellen Rundschreibens, unterschrieben vom Präfekten Morcone. Er hat allen Institutionen befohlen, allen Migrant*innen die Möglichkeit zu geben, das Verfahren zur Beantragung des internationalen Schutzes einzuleiten.
Nicht alle hatten die Möglichkeit in Trapani anzukommen und als mögliche Asylsuchende betrachtet zu werden. Wer an anderen Stellen vorbeigekommen ist, an anderen Hotspots, wie Lampedusa und Pozzallo, bei dem endet der Weg anders: Das Nichts und eine Abweisung in der Hand, wie Alpha und Omega, die so getan haben, als seien sie glücklich, um den Familienangehörigen zu sagen: „Mama, bleib ruhig, weine nicht, mir geht es gut. Sei glücklich, weil ich jetzt dank Dir ein freier Mann bin. Eines Tages werde ich dich holen kommen und dann sind wir wieder zusammen.“

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria: außerordentliches Aufnahmezentrum
*Zentraler Dienst – Kontrollorgan des Innenministeriums für das SPRAR-Netzwerk
*ASP – Azienda Sanitaria Provinciale: Gesundheitsbehörde der Provinz
*IOM – Internationale Organisation für Migration
*CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft
*HUB – aus dem Englischen von „Sammelpunkt“, die neuen Verteilzentren für Asylsuchende

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber