„Consecutio temporum“. Pressemitteilung des „Sportello Immigrati“ (Beratungsstelle und Anlaufpunkt für Flüchtlinge) Caltanissetta

In einer Zeit, in der jegliches Mitgefühl mit fremdem Leid verloren gegangen ist, ist das Gesetz der einzige Anhaltspunkt, um nicht völlig vor dem Bösen im Menschen zu kapitulieren.

Doch zuerst eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse des 8. Oktobers: An der Station kommt eine Gruppe fremder Menschen an, offensichtlich verwirrt. Was jedoch unsere Neugierde weckt: alle haben die gleiche Reisetasche, als seien sie eine Gruppe von Sportlern. Sie nähern sich und wir bemerken plötzlich Kunststoffbänder an ihren Handgelenken (jene, die benutzt werden um Kabel zusammenzuhalten) mit einer daran hängenden Nummer. Da wir neugierig sind, bitten wir um Informationen.
Die Antworten sind alle gleich: die Menschen sind vor zwei Tagen auf der Insel Lampedusa angelandet. Ihnen wurden Fingerabdrücke abgenommen, ein Schreiben gegeben (darin enthalten sind die Aufforderung das italienische Staatsgebiet innerhalb sieben Tage zu verlassen, sowie ein Informationsschreiben an das Konsulat ihres Herkunftslandes) und am Abend wurden sie an den Hafen begleitet, um die Fähre nach Porto Empedocle zu nehmen. Haben sie vorher etwas zu Essen oder zu Trinken bekommen? Nein. Wurden sie vorher untersucht oder gefragt, ob es Ihnen gut geht, oder ob jemand gesundheitliche Probleme hat? Natürlich nicht. Wurden sie über die italienischen Rechtsvorschriften aufgeklärt? Darüber, was sie tun dürfen und was nicht? Selbstverständlich nicht.

Am Hafen von Empedocle angekommen, werden sie zum Bahnhof von Canicatti eskortiert, wo ihnen gesagt wird, dass sie den Zug (der dann jedoch ein Bus ist) nach Caltanissetta nehmen sollen. Ins Zentrum von Caltanissetta.

Am Morgen des 9. Oktobers begleiten wir sie zum „Centro di Pian del Lago“, einem Aufnahmelager für Geflüchtete, um internationalen Schutz zu beantragen. Dort wird einigen gesagt, dass sie Dienstag oder Mittwoch wiederkommen sollen, anderen, dass ihre Glückstage hingegen Montag, Mittwoch und Freitag sind, und dass man aber in jedem Fall am 9. Oktober, einem Freitag, nichts machen könne. Die darauf folgende Woche werden sie erneut zum „Centro di Pian del Lago“ gebracht, wo sie zwar nicht Schutz beantragen, sich jedoch auf eine Liste eintragen können. Wenn sie dann dran sind, können sie ihren Antrag stellen. In der Zwischenzeit, mit der Anordnung das Land innerhalb von sieben Tagen zu verlassen und ohne jegliche Papiere, werden sie gezwungen, ständig in der Nähe des Erstaufnahmezentrums zu bleiben, um täglich nachzusehen, ob sie endlich dran sind. Ohne Essen, ohne Dach über dem Kopf, ohne irgendetwas.

Gehen wir nun von dieser sich täglich wiederholenden Geschichte über zum Gesetz.

Gemäß des Decreto Legislativo 25 von 2008, Artikel 26 „muss der Antrag auf internationalen Schutz der Grenzpolizei oder einer beliebigen Polizeistation eingereicht werden. Das Polizeipräsidium, das den Antrag erhält, verfasst ein Protokoll über die Angaben des Antragstellers auf einer von der nationalen Kommission bereitgestellten Vorlage.

Das Protokoll wird vom Antragsteller genehmigt und unterzeichnet, der dann eine Kopie der Dokumente ausgestellt bekommt.“

Die Auslegung dieser Reglementierung scheint für die meisten Menschen einfach, vor allem durch das „consecutio temporum“ (die Zeitenabfolge): Das Polizeipräsidium „erhält den Antrag und verfasst den Bericht“. Dies scheint zu bedeuten, dass die Polizei zuerst den Antrag bekommt und daraufhin den Bericht verfasst. Aber nicht in Caltanissetta. Hier werden die Antragsteller auf eine Liste eingeschrieben, und wenn Kapazität vorhanden ist, den Bericht zu schreiben, können Anfragen gestellt werden.

Ein interessanter Fall von kreativer Auslegung, sicher. Er bedeutet jedoch eine Verletzung des Asylrechts, und vor allem der Würde jener Menschen, die, dank der rechtswidrigen Praxis der Büros in Caltanissetta dazu gezwungen sind, monatelang in unseren Städten zu zelten, um etwas zu erbetteln, das eigentlich ihr Recht sein sollte.

Aber darin, die Rechtsvorschriften zugunsten von uns Sizilianern auszulegen, sind wir große Meister.

Zur Erinnerung: „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne jegliche Unterscheidung, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.“

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 2)

Wie können unsere lokalen Institutionen (Präfekturen, Gemeinden) zulassen, dass hunderte von Menschen unter freiem Himmel schlafen, ohne Nahrung, ohne jeglichen Komfort, ohne Würde? Wie können sie nicht um jeden Preis versuchen, ihnen das Minimum an Mitteln zuzusichern, die zum „Mensch sein“ erforderlich sind?

Sportello Immigrati – Via Re d’Italia 14 – Caltanissetta

Aus dem Italienischen übersetzt von Lara Simon