Lampedusa. Die 8-jährige Aisha gegen Italien

Quelle: TerreLibere

Den europäischen Gerichtshof erreicht die Klage einer tunesischen Familie. Ihre Rechte wurden von Italien verletzt. Wieder einmal im berüchtigten Hotspot.

Innerhalb weniger Tage wurde Aisha ohnmächtig vor Hunger und Durst in einem Boot, das von Sfax aufgebrochen und abgetrieben war. Sie hat gesehen, wie ein Verrückter versucht hat, vor ihren Augen ihre Mutter zu vergewaltigen. Sie hat während eines gewaltsamen Angriffs der italienischen Polizei einen Schlag in den Bauch bekommen. Sie lebt in einem fortwährenden Angstzustand, der sie das Bewusstsein verlieren lässt.

Jetzt ist die Zeit der Wiedergutmachung gekommen. In diesen Tagen kommt ihr Fall in Strasbourg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auf der einen Seite ein tunesisches Kind von 8 Jahren und dessen Mutter. Auf der anderen der italienische Staat.

Losgelassene Hunde im Hof des Hotspots

„Wir waren 40 Leute auf dem Boot und sind vom Kurs abgekommen“, erzählt die Mutter. „Wir sind auf ein Fischerboot gestoßen und haben die Fischer gebeten, uns wieder nach Tunesien zu bringen. Sie haben sich geweigert.“ Drei Tage ohne zu essen und zu trinken. Dann ein Licht in der Ferne und weitere neun Stunden bis zur Rettung, d.h. bis zur Insel Lampedusa. Es war um zwei Uhr nachts am 15. Februar. Aisha wird ohnmächtig und wird mit dem Krankenwagen abtransportiert.

Trostlos und verwahrlost

Die Familie will Asyl beantragen. Aber sie kann es nicht. „Während ihres ganzen Aufenthalts bekamen sie nicht ein Dokument, das den Eingang ihres Antrags auf Schutzbedürftigkeit bestätigte“, sagt Giulia Crescini, die Anwältin der Familie.

Eine Frau und ein achtjähriges Mädchen sind ganz gewiss schutzbedürftige Menschen. Sie bleiben jedoch im Hotspot. Zusammen mit allen anderen. Der „nationale Beauftragte zum Schutz inhaftierter Menschen“ – eine Institution des Staates – spricht von einem „trostlosen und verwahrlosten“ Ort. Dort sind Polizisten und losgelassene Schäferhunde im Hof, schmutzige Luftmatratzen. Warmes Wasser? Eine Stunde am Tag. Und nachts gibt es in den Toiletten nicht einmal kaltes Wasser. Morgens sammeln sich die Fäkalien in den Toiletten, „wenige Meter von dem Zimmer mit den Matratzen entfernt“. Ohne Türen zwischen Schlafsälen und Toiletten.

Eines der Betten im Hotspot von Lampedusa

Alle wollen weg. Einige greifen dabei zu extremen Mitteln. Einer näht sich die Arme mit Stacheldraht zusammen, ein anderer verschluckt eine Klinge.

Im Zentrum spricht man noch von W. Er hat sich vor einem Monat umgebracht. Zwei Monate lang wird er festgehalten, dann bekommt er die surreale Anordnung, Italien zu verlassen. Er hatte psychische Probleme, brauchte Medikamente, die es auf der Insel nicht gab. Er hätte humanitären Schutz verdient.

Man kann über alles reden, aber sicher ist ein Hotspot kein geeigneter Ort für ein Mädchen, das noch von der Überquerung des Meeres gezeichnet ist. Trotzdem schlafen Mutter und Tochter auf dem Flur. Zusammen mit den Männern.

Eines Nachts sieht Aisha, wie sich jemand ihrer Mutter nähert. Er belästigt sie und versucht, sie zu vergewaltigen. Nur die Schreie der Frau rufen deren Lebensgefährten herbei, der den Missbrauch verhindert. Nicht die Polizisten machen das. Aisha bekommt eine Panikattacke. Sie wird bewusstlos. Zwei Stunden lang bleibt sie ohne Bewusstsein.

Der Brand

„Ein Polizist drängte alle nach vorne und schlug jeden mit dem Schlagstock, der in der Schlange für das Abendessen anstand, ohne Grund.“ Eine Gruppe, müde des Ganzen, möchte gehen. „Während diese Gruppe mit dem Sicherheitsdienst spricht, bleiben drei Migrant*innen zurück und setzen ein Zimmer in Brand“, erzählen die Aktivist*innen der Kampagne „Lasciatecientrare“.

Am 8. März eskaliert alles. „Es entstand eine unklare Paniksituation. Die Leute vom Sicherheitsdienst hielten die Schlagstöcke in der Hand und verbreiteten noch mehr Panik unter den Menschen, die daraufhin anfingen, in alle Richtungen zu rennen, während die Polizei in voller Montur mit gewaltsamen Angriffen begann. Einige konnten durch das Haupttor, andere durch ein Loch im Zaun fliehen. Wieder andere wurden gestoppt und an den Eingang gequetscht.“

Zeichen von Schlägen an einem der Bewohner*innen

„Die Antwort der Polizeibehörde war Gewalt und sie schlugen ohne Unterschied Männer, Frauen und Kinder“, beklagt Crescini. Ein Schlag mit dem Schlagstock trifft Aisha im Bauch. Die Kleine muss in die Erste Hilfe. Auf dem Bett schreit sie verzweifelt. „Gibst du mir dieses Video?“, sagt jemand, der nicht näher identifiziert wurde, zu dem, der die Szene aufnimmt.

Inzwischen haben die Flammen die Bedingungen im Zentrum definitiv verschlechtert, so dass es nicht mehr bewohnbar ist. Aber Aisha und ihre Familie müssen noch eine Woche in dem halbverbrannten Zentrum verbringen.

Der Biss

„Ich wurde so oft von der Polizei und den anderen Erwachsenen geschlagen. Auch hat mich ein Polizeihund gebissen und die Polizisten lachten, während er mich biss und machten nichts.“ Ahmed ist ein Minderjähriger, der von Aktivisten der Cidl, Asgi und Indiewatch, interviewt wurde, Vereinen, die ein Dossier über die Vorgänge der letzten Monate auf Lampedusa erstellt haben.

„Schläge, willkürliche Durchsuchungen und Drohungen gegenüber den Bewohner*innen sind an der Tagesordnung“, sagen die Anwält*innen.

Spuren eines Hundebisses

Seit Jahren ist es die gleiche Geschichte. Lampedusa gleicht einem Dampfkochtopf. Wenn man das Zentrum als Hub für Ausweisungen benützt, mit Inhaftierungen auf unbegrenzte Zeit, explodiert die Situation früher oder später.

Die Migrant*innen dürften maximal 48 Stunden dort festgehalten werden. Aber es gibt monatelange Inhaftierungen. Das gleicht einer „Haft ohne Verbrechen“. Und seitdem es ein Hotspot geworden ist, nach europäischem Modell, hat sich alles noch verschlechtert.

Menschen ohne Rechte

Bei ihrer Ankunft in Lampedusa können Tunesier*innen nach internationalem Recht kein Asyl beantragen. Höchstens „den Willen kundtun“. Das Asylantrag auszufüllen ist praktisch unmöglich. Sie werden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ betrachtet, als Leute, die man zurückschicken kann.

Die Spur des Schlagstocks auf dem Bauch von Aisha

Das Asyl für Tunesier*innen würde das einzig funktionierende Glied in der Kette zerstören, zusammen mit dem ägyptischen. Die Kette der Abschiebungen, derer sich jede Regierung gerne rühmt.

Es sind die alten Verträge, die noch mit Ben Alì und Mubarak abgeschlossen worden waren. Die nicht als blutrünstige Diktatoren, sondern als Gesprächspartner an der Spitze von sicheren Ländern behandelt wurden. Länder, in die man jeden abschieben kann, aufgrund der Nationalität, ohne die individuelle Geschichte zu berücksichtigen, ohne anzuhören, was er*sie zu sagen hat.

Der Fall Aisha ist exemplarisch. Die Mutter trennt sich vom Mann – eine problematische Situation in Tunesien – hat einen neuen Partner und will der Tochter eine bessere Zukunft bieten. Sie zeigt den Ex-Mann wegen Gewaltanwendung an und geht nach Italien. Sie dachte, dass sie es nur mit dem Meer aufnehmen müsste, nicht mit einer Festung.

Geschlossen/offen

„Sie gaben mir ein kleines Heft, in dem meine Rechte standen, aber meiner Meinung nach ist das ein Witz, sie zeigen es dir, aber wenn du deine Rechte einforderst, schlagen sie dich“, sagt ein anderer Tunesier.

Auf der Insel erheben sich, angesichts der nahenden Sommersaison, alarmierte Stimmen. Die „Illegalen“ vertreiben die Tourist*innen. Der Tageszeitung „La Stampa“ zufolge gibt es eine Vereinbarung, um Lampedusa nicht am Vorabend der Touristensaison zu beunruhigen: den Migrant*innen wurde „abgeraten“, sich auf der Straße sehen zu lassen.

Die Zimmer des Hotspots

Es handelt sich um eine Debatte, die seit Jahren auf die immer gleiche Weise abläuft.

Auch der Status „offen/geschlossen“ ist eine Konstante.

Am vergangenen 13. März hatte der Innenminister eine „zunehmende und schnelle Leerung“ des Hotspots angesichts der Sanierungsarbeiten angekündigt.

Aber bei der nächsten Ausschiffung riskiert Lampedusa wieder das gewöhnliche Gruselkabinett zu bieten. Weil es keine Gefängnis-Insel ist und nie und nimmer eine sein wird.

 

 

Antonello Mangano

TerreLibere

 

Fotos, Videos und Zeug*innenaussagen wurden von den Vereinen Asgi, CILD, Indiewatch und Lasciatecientrare gesammelt. Die Namen der Personen wurden geändert, um die Identität der Migrant*innen zu schützen.

Übersetzung von Jutta Wohllaib