Soviel Heuchelei und Verwirrung, eine einzige Gewissheit: Der Tod – Agrigento

Wir
sind auf unserer Reise in der chaotischen Stadt Palermo und bei der Unfähigkeit
der lokalen, genauso wie der nationalen Politiker, angemessene Antworten zu
diesem Phänomen zu geben, hängen geblieben. So nehmen wir die Fahrt wieder auf in
Agrigento, wo die Lage gar nicht glänzend aussieht, sondern eher finster: Alles scheint von den Machthabern verborgen, die
Nachrichten berichten nur über besonders dramatische Fälle, der Rest wird
verschwiegen. Agrigentos Situation ist besonders kritisch.
Die Provinz
(den Bezirk Sciacca ausgenommen) zählt mehr als 40 Aufnahmezentren für
minderjährige Flüchtlinge: 1.300 Jugendliche. Ein verlockendes Business, da das
Tagegeld von 35€, das der Dienstleister bekommt, auf 45€ steigt, wenn es um
Minderjährige geht. Allein in Agrigento gibt es 20 Aufnahmezentren für
Minderjährige, aber trotz dieser großen Anzahl gibt es nur eine einzige Abendschule
für eine erste Alphabetisierung.

Das
größte Problem besteht im chronischen Mangel an freiwilligen Vormündern. In den
Zentren bleiben die Jugendlichen vier bis fünf Monate ohne Vormundschaft – mit
der Konsequenz, dass die wichtigsten und notwendigsten Aktivitäten nicht durchgeführt
werden können. Stellt euch vor, dass z.B. in gesundheitlichen Notsituationen
die zuständigen Mitarbeiter in den Zentren als Vormund eingesetzt werden. Dies bringt
aber klare Widersprüche mit sich, da die Figur des Vormunds und des
Mitarbeiters gegensätzliche und sich ergänzende Rollen verkörpern, so dass ein
wirklicher Schutz nicht mehr gewährleistet werden kann. Bis vor kurzem hat das Gericht
von der ehrenamtlichen Unterstützung von Anwälten und Sozialarbeitern Gebrauch
gemacht, um das bürokratische Verfahren für die Minderjährigen zu beschleunigen.
Heutzutage beschweren sich die Vormünder, dass sowohl die Gerichte als auch die
kommunale Verwaltung und das Sozialamt sie nicht unterstützt hätten.

Darüber
hinaus beklagen sich die Minderjährigen, dass sie sich wegen des Mangels an
Mediatoren und Psychologen nicht mit den zuständigen Mitarbeitern der Zentren
verständigen können. Ein professioneller Mediator wird nur in Erwägung gezogen,
wenn Situationen in den Zentren besonders kritisch werden. Wie werden
Fördermittel investiert? Wer kontrolliert die Strukturen? Wer hört den
Jugendlichen und deren Vormündern zu, die ganze Bücher über die
undurchsichtigen Dynamiken innerhalb der Zentren schreiben könnten? – Die
Antwort ist immer die gleiche: niemand. Auch weil man sich an Notzustand und dem
daraus resultierenden bürokratischen Chaos besser bereichern kann. Nach langer
und vergeblicher Hoffnung ist die Lösung für viele Minderjährige zu fliehen, die
Zentren zu verlassen, denn– wie uns ein Vormund erzählt – „die Minderjährigen
erleben Italien nicht; sie sind total von der Realität entkoppelt, und wir sind
schuld, weil es keinen Integrationsprozess gibt und niemand darüber Kontrolle
hat. Ganz im Gegenteil – es gibt sogar ein heimliches Einverständnis zwischen
denjenigen, die auf Kommunalebene kontrollieren müssen, und den zuständigen
Mitarbeitern für die Minderjährigen“.

Die
minderjährigen Flüchtling verlassen die Zentren, wie D., ein Mädchen aus
Senegal. Sie wurde nach der Ankunft von ihrem jüngeren Bruder getrennt. Die
Mitarbeiter berücksichtigen häufig nicht die Perspektive der Angekommenen, die wie
Nummern behandelt werden, und hören wenig zu. D. hat angefangen ihren Bruder zu
suchen: Zunächst war er in einem Zentrum untergebracht, dann wegen schwerer Gesundheitsprobleme
im Krankenhaus, aber letztendlich hat sie es dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrer
Hoffnung, zusammen mit dem einzigen Mitglied ihrer Familie zu leben, geschafft,
ihn wiederzufinden. Bürokratische Hindernisse gaben ihnen keine Möglichkeit zusammen
zu leben. So hat D. sich entschieden, zusammen mit dem Bruder wegzugehen, in
der Hoffnung auf ein besseres Leben, das ihnen bis jetzt verweigert wurde. Auf
wen wird D. sich verlassen? Wie wird sie die skrupellosen Profiteure bezahlen,
in deren Hände sie sicherlich geraten wird, um ihren Traum zu verwirklichen?
Wir werden das nie erfahren, aber wir sind sicher, dass Menschenschmuggler sich
bei den europäischen Politikern für die Gesetze bedanken, die ihnen ihre
grausame Arbeit erleichtern.

In Agrigento
gibt es nicht nur Minderjährige, sondern auch Familien und Erwachsene, die Gäste
in den 12 CAS* in der Provinz Agrigento geblieben sind, nachdem die von Omnia
Academy geleiteten Zentren in Naro und Favara aufgrund von Nichteinhaltung der
rechtlichen Vorgaben geschlossen wurden. Die Flüchtlinge werden von CSPA** in
Lampedusa nach Agrigento versetzt. Sie werden von Dutzenden von Polizisten von
Montag bis Freitag mit der Fähre, die von Montags bis Freitags täglich anlegt, begleitet.
Wir gehen davon aus, dass der Reeder ziemlich viel daran verdient.


Nachdem
sie in Porto Empedocle angekommen sind, ohne Mediatoren und ehrenamtliche
Helfer, werden die Flüchtlinge nach Villa Sikania (in Siculiana) versetzt, ein
riesiges Zentrum. Nach ein paar Wochen, oder Monaten, werden sie weiter
entweder in andere Zentren in Sizilien oder – mangels Plätzen in unserer Region
– nach Nord- und Mittelitalien versetzt.

Unsere
Reise ist noch nicht beendet. Die Fortsetzung folgt von Trapani.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CAS:
Außerordentliches Aufnahmezentrum

**CPSA:
Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge auf Lampedusa

Aus dem Italienischen von Miriam Burbarelli