Wir empfangen euch mit offenen Armen


Foto Alberto Biondo

Unsere erste Empfindung bei der Ankunft im „Cas San Marco“ in Licata war die der Beschämung und der Verlegenheit. Unmittelbar gegenüber der Eingangstür des Gebäudes, das 68 junge Männer beherbergt, steht eine Christusfigur, die mit ausgebreiteten Armen die Menschen zu trösten scheint. Wenn wir nur daran denken, dass all die jungen Menschen, die hier aus dem Fenster schauen alles andere als getröstet sind, wird auch uns das Herz schwer, wie eine ältere Dame ihre Empfindung beschreibt, die vor der Statue stehengeblieben ist.

Das Empfangszentrum befindet sich weitab des historischen Stadtzentrums, in der Peripherie von Licata, einem Dorf in der Provinz Agrigento, direkt an der Landstraße SS 115. Hier draußen sind die Migranten nicht sichtbar und ohne Kontakt zu den Bewohner*innen von Licata.
Wir werden vom Mediator und dem Sozialarbeiter des Zentrums empfangen. Die Bewilligung zu diesem Besuch haben wir zuvor von der Präfektur in Agrigento erhalten. Das Gebäude ist groß – auf drei Stockwerken sind die Migranten nach ihrer Nationalität untergebracht. Im Erdgeschoss sind es 19 Männer aus Pakistan, im ersten Stock 15 Personen aus Bangladesh und 8 aus Afghanistan (sie sind bereits seit Dezember hier, aber es war ihnen erst vor wenigen Tagen möglich, ihr Asylgesuch einzureichen). Im zweiten Stock ist die „afrikanische Zone“ mit vor allem Bewohnern aus Gambia und Nigeria und einem „Dublin Fall“ aus Mali, der sich seit einem Jahr in diesem Haus befindet.
Im Gegensatz zur Geste der alle wohltätig empfangenden Christusstatue scheinen die Menschen hier in einem depressiven Zustand zu sein. Kein Wunder, die meisten sind seit zwei Jahren hier blockiert. Was ihre Situation noch verschlimmert, ist, dass sie alle einen abweisenden Bescheid von der Territorialkommission bekommen haben, außer den beiden Afghanen, die sich jetzt an einem anderen Ort aufhalten.
Die Territorialkommission von Agrigento erreicht einen Prozentsatz von fast 100 in ihren Zurückweisungen, als wenn sie eine Meisterschaft gewinnen wollte im Zufriedenstellen der Politiker*innen, die von ihnen ausschließende „Antworten“ erwarten. Viele der Migranten sind Familienväter. Seit 2014 sitzen sie in diesem Haus in der Provinz Agrigento fest und quälen sich mit der Frage, warum sie sich in dieser ausweglosen Situation befinden.
Ihre einzige Bezugsperson, und auch nicht für alle, ist ein Mann aus Gambia, der als Mediator zwischen dem Betreiber und den Bewohnern vermittelt, denn die im Zentrum tätigen Angestellten der Betreibergesellschaft sprechen keine Fremdsprachen! Der Mediator ist seit 5 Jahren in Italien und auch er lebt in dieser Einrichtung.
In den zwei Jahren seit der Inbetriebnahme des Zentrums habe es keine erwähnenswerten Schwierigkeiten gegeben – sei es, weil das Alter der Gäste höher ist als in anderen Einrichtungen, sei es wegen der Art der Organisation des Betriebes – es ist eine „begleitete“ aber autonome Einrichtung. Jedes Stockwerk hat eine eigene Küche, in der individuell gekocht wird.
Es erstaunt und befremdet uns aber, dass es offenbar keinen Austausch gibt zwischen den einzelnen Stockwerken. Verschiedene Ghettos im Ghetto! Alle sind sie gleich fremd hier – und doch leben sie voneinander getrennt. Offenbar war dieses System für den Betreiber nicht nachteilig, denn Probleme gab es lediglich bei der Versorgung mit Kleidern, bei gesundheitlichen Schwierigkeiten und natürlich bei der Beschaffung der Dokumente.
Laut der Sozialarbeiterin scheint alles bestens zu funktionieren, außer der Hygiene und der Ordnung, die schwierig aufrecht zu erhalten sind. Die Gäste ihrerseits machen uns auf weitere Probleme aufmerksam: die langen Wartezeiten auf die Dokumente und die damit verbundene Unmöglichkeit einer Arbeit nachzugehen, die menschenwürdig ist. Einige berichten, dass sie von der Territorialkommission in Enna angehört wurden, um die Zahl der Anhörungen in Agrigento herabzusetzen. Das war vor sechs Monaten und noch immer haben sie keine Antwort erhalten, ob ihrem Antrag für den internationalen Schutzstatus stattgegeben wurde.
Auch über gesundheitliche Probleme wurde berichtet. Es scheint uns, dass die Ärzte aus Licata nicht genug vorbereitet sind auf Patienten aus anderen Kulturen und ohne Italienischkenntnisse. Die Migranten verstehen die Anordnungen der Ärzte nicht und niemand erklärt ihnen, wie die italienische Bürokratie funktioniert. So wartet ein Herr aus Bangladesh seit einem Jahr auf eine Operation, der er sich unterziehen sollte. Ein junger Mann aus Nigeria leidet seit sechs Monaten an einer Zahnkaries und wird nicht behandelt.
Die Migranten beklagen sich auch über die mangelnde Versorgung mit geeigneter Kleidung. „Was wir tragen, haben wir selber gekauft.“ Sie hätten nur bei der Ankunft Kleidung bekommen, darunter auch gebrauchte Frauenjacken, die sie uns zeigen. Auch Handtücher und Bettwäsche seien nur bei ihrer Ankunft verteilt worden, seit zwei Jahren hätten sie keine mehr erhalten. Tatsächlich ist das, was wir sehen, alt und schmuddelig. Das alles bestreitet der Sozialarbeiter, wenn auch wenig überzeugend, als wir sie auf den schlechten Zustand der Bettwäsche aufmerksam machen.
Es schien uns zudem, dass die Schlafzimmer beengend sind, mit zu vielen Hochbetten nebeneinander. Ausserdem sei die WLAN-Verbindung ungenügend für alle Bewohner, für die diese Technologie die einzige Möglichkeit ist, mit ihren Familien zu kommunizieren und die Verbindung zur Außenwelt nicht zu verlieren.
Die Sozialarbeiterin weist nachdrücklich darauf hin, dass einige dieser Probleme neu seien, als Folge der zu Ende gehenden finanziellen Mittel der Kooperative, denn die Präfektur bezahle seit sechs Monaten nichts mehr. Die Versorgung mit Taschengeld sei im Rückstand und auch die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel werde weniger, was sich offenbar auf die Unzufriedenheit der Bewohner auswirkt.
Aber was offensichtlich fehlt in allen CAS*, die wir besucht haben, ist eine ernstzunehmende psychologische Betreuung und Unterstützung der Bewohner. Viele von ihnen bleiben auch während unseres Besuches im Bett, wenige haben sich aufgerafft zu berichten und ihrer Frustration Luft zu machen, die sie täglich erleben.
„Ich kam vor zwei Jahren, um Geld zu verdienen, für die Behandlung meiner kranken Kinder. Ich war Vater von 4 Kindern, zwei von ihnen sind gestorben, weil sie zuhause kein Geld hatten für ihre Pflege und ich habe dazu beigetragen sie zu töten – ich habe nie Geld schicken können, weil es mir nicht gelang, eine Arbeit zu finden – es ist meine Schuld dass sie nicht mehr leben – seit 4 Monaten warte ich auf das Resultat meines Rekurses gegen die Ablehnung meines Asylantrages.“ Das ist der verzweifelte Ausbruch eines Mannes aus Gambia, der offensichtlich psychisch leidet und ohne die Unterstützung eines Spezialisten einem Ausbruch entgegensieht.
Nur wenige von ihnen arbeiten in der benachbarten Landwirtschaft – für 20 Euro am Tag, ausgenutzt von den Bauern, die im Zentrum billige, anspruchslose Arbeitskräfte finden.
Diese Situation im CAS* San Marco von Licata ist die Folge einer kriminellen Politik, einer Politik die dazu führt, dass die Territorialkommission in Agrigento auch unbegleitete Minderjährige und Schwangere abweist. Aber was für Kriterien werden denn angewendet? Einige Betreiber der CAS der Provinz erzählen, dass der Vertreter des UNHCR in der Territorialkommission rücksichtslos und unbarmherzig sei. Borderline Sicilia wird diesen Fällen von noch nie dagewesener Schwere nachgehen und die Verantwortlichen um Erklärungen für die Rechtsverletzungen und den Missbrauch zu bitten.
Für Migranten gibt es keinen Frieden, nicht einmal die Minderjährigen werden in diesem Dschungel verschont. Es gibt Aufnahmezentren die aus Geldmangel schließen müssen. Andere werden neu eröffnet, wie das Zentrum für unbegleitete Minderjährige im Villaggio Mosé in Agrigento, wo es inzwischen schon 5 solche Einrichtungen gibt. Andere wiederum eröffnen aufs Neue, nachdem sie aufgrund von Strafanzeigen und Kontrollen geschlossen worden waren. Schlimme, nicht nachvollziehbare Zustände, die sich überall wiederholen.
In Agrigento gibt es nicht mehr genug bereitwillige Fachleute, die die Funktion eines Tutors oder einer Tutorin ausüben wollen, aufgrund von verschiedenen Missverständnissen zwischen den freiwilligen Bürger*innen und den Institutionen. Die Folge davon ist, dass die Funktion der Tutor*innen nun von den Betreibern der Zentren übernommen wird. Diese wiederum beauftragen die bereits akkreditierten Anwälte, was zu Interessenkonflikten und zur massiven Missachtung des geltenden Rechtes führt. Damit wird ein System weitergeführt, das den Schutz von Minderjährigen missachtet, ein System das seit Jahren veraltet ist und das das Auseinanderdriften der Zivilgesellschaft vorantreibt.
Auch die zuletzt Angekommenen leiden unter diesem gescheiterten System. Im Hotspot von Lampedusa warten mehr als 300 Personen auf ihre Weiterreise, die sie aber wegen der schlechten Wetterbedingungen auf See nicht antreten können. Villa Sikania sollte eigentlich ein HUB für die Verlegungen in andere europäische Länder sein. Das ist aber in Sizilien nicht von Belang, denn hier landen keine Leute aus Syrien oder Eritrea mehr, die für die „Relocations“ in Frage kommen. Heute leben hier vorübergehend mehr als 200 Personen in einer „dauernden Notfalllösung“, die darauf warten in andere CAS in ganz Italien verlegt zu werden.
Diese „Nicht-Aufnahme“ ist allgegenwärtig, denn von Interesse sind nicht die Menschen sondern der Duft des Geldes. Und doch, es würde so wenig fehlen, wie uns ein Freund erzählte, der uns vor die Christusfigur mit den ausgebreiteten Armen führte: „Nach beinahe zwei Jahren kann ich jetzt vielleicht schlafen. Es ist das erste Mal seit ich hier bin, dass jemand kommt und fragt, wie es uns gehe und wie wir leben. Man hat uns hier eingeschlossen. Die wenigen Leute, die hier vorbeigehen, grüßen uns kaum und schauen uns an, wie wenn wir Tiere in einem Käfig wären.“

Alberto Biondo

Borderline Sicilia Onlus

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – außerordentliches Aufnahmezentrum

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne