Struktureller „Notstand“ bei der Anwerbung unterbezahlter Landarbeiter*innen in Cassibile

Von der Hauptstraße, die in das kleine Städtchen Cassibile führt, lässt sich das illegale Lager der ausländischen Arbeiter*innen erblicken. Dieses besteht aus Zelten, Wellblechhütten und improvisierten Unterkünften zwischen Bäumen. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang brechen die Migrant*innen, die hier leben, zur Kartoffelernte auf. Zurück kommen sie erst wieder am späten Abend, nach einem anstrengenden Arbeitstag als Landarbeiter*innen.

Die Zeltstadt ist groß und weitläufig und sie ist nach ethnischen Gruppen und nationalen Gemeinschaften unterteilt, die sich zwischen Baracken und Lieferwagen zurechtfinden. Rachid ist ein Saisonarbeiter, der immer wieder nach Cassibile zurückkommt. Er erzählt uns, dass derzeit etwa 150 bis 200 Arbeiter*innen, alle davon ohne Arbeitsvertrag, seit zwei Monaten mit der Kartoffelernte beschäftigt sind. Diese dauert normalerweise von April bis Juni.

In einem Moment des nationalen Notstandes, verursacht durch Covid-19, hat sich im Lager nichts geändert. Anstatt hier neue Unterkünfte zu finden, die den Corona-Hygieneregeln entsprechen würden, wurde versucht das Lager noch weiter einzugrenzen und zu isolieren, wie ein Ghetto. Die Arbeit der Hilfsarbeiter*innen geht unterdessen weiter. Es wurden Mund-Nasen-Schutzmasken verteilt und eine Wasserleitung gebaut, die bis ins Camp reicht. Somit müssen die Migrant*innen nicht mehr ins Stadtzentrum gehen, um sich mit Wasser zu versorgen, und stellen dadurch keine gesundheitliche Gefahr für die lokale Bevölkerung dar.

Doch im Lager von Cassibile besteht der Notstand seit fast 20 Jahren. Der Notstand hier heißt Beschäftigung von Schwarzarbeiter*innen in der Landwirtschaft. Es handelt sich um eine Plage, die ausländische Arbeiter*innen ausnützt, oftmals bis zum Tod. Cassibile ist, wie viele andere Lager im Süden und mittlerweile auch im Norden Italiens, ein Rekrutierungscamp für billige Arbeitskräfte.

Laut den Erzählungen des Antirassistischen Netzwerks von Catania Rete Antirazzista Catanese, das die Situation der Migrant*innen in den Feldern um Cassibile seit Jahren beobachtet, liegt die Vermittlung der Erntehelfer*innen in den Händen der Vorarbeiter und deren Gehilfen. Sie nutzen die illegalen Hilfsarbeiter*innen aus, indem sie ihnen für ihre Arbeit Niedriglöhne bezahlen. Für wenige Euro am Tag werden 100 Kartoffelkisten gefüllt und das in neun oder zehn Arbeitsstunden. Das Fehlen von Arbeitsverträgen und jeglicher Gewerkschaftsschutz führt zu einer Lohndifferenzierung von Ausländer*innen in Bezug auf Ausbeutung, welche sich auf das Leben, die Gesundheit und die Rechte der Migrant*innen auswirkt.

Trotz der vielen Versprechungen der Gemeindeverwaltung von Syrakus einzugreifen und den Notstand im Lager zu beenden, wurde noch immer kein ordentliches Camp gebaut, das die hygienischen und gesundheitlichen Mindeststandards einhält. Das Lager zeichnet sich durch prekäre Bedingungen, Isolation und mangelnde Grundversorgung aus. Es gibt kaum Licht und Gas, und auch die Toiletten sind nur wenige und dazu baufällig. Die Migrant*innen haben sich aller Widrigkeiten zum Trotz organisiert. Im Zentrum des Lagers gibt es ein großes Speise-Zelt für alle, mit Kühlschrank, Gefriertruhe und Campingöfen.

Das Lager wird vor allem von der sudanesischen, der senegalesischen und der nordafrikanischen Gemeinschaft, die vorwiegend aus Marokkaner*innen besteht, organisiert. Die Bewohner*innen erzählen uns, dass die Saison in Cassibile bald zu Ende geht und dass der Großteil der Arbeiter*innen die Baracken hier in Syrakus in den nächsten zwei Wochen verlassen wird. Sie werden in Apulien, irgendwo zwischen den großen Städten Nardò, Lecce, Brindisi, Foggia und Bari, eine neue Saison als Hilfsarbeiter*innen beginnen. Erst im September werden sie dann nach Sizilien zurückkehren, für die Ernte in Campobello di Mazara, welche bis Ende November dauern wird. Diese schlecht bezahlten und ausgebeuteten Feldarbeiter*innen ernähren seit Jahren ganz Italien und auch während des nationalen Corona-Notstandes scheint sich daran nichts geändert zu haben.

Die Geflüchteten auf den Feldern von Cassibile

Unsere Beobachtungen der letzten Tage haben ergeben, dass es sich bei einem Großteil dieser Arbeiter*innen um Asylantragsteller*innen, Inhaber*innen des humanitären Schutzes und Personen, die auf die Erneuerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung warten, handelt. All diesen Menschen wird die Möglichkeit verweigert, regelmäßig und gemäß den vertraglichen Bestimmungen zu arbeiten. Unter den Hilfsarbeiter*innen ist die Anzahl der anerkannten Geflüchteten groß; es handelt sich hier vor allem um Menschen aus dem Sudan, welche die größte Gruppe im Camp bilden. In Begleitung der Mitarbeiter*innen von Intersos, die das Camp seit Anfang Juni betreuen, haben wir in den letzten Wochen öfters mit den Bewohner*innen gesprochen. Im Gespräch wurde klar, dass die Nöte dieser Menschen großes Gehör finden müssen. Deshalb wurde zum Weltflüchtlingstag, am 20. Juni, ein Treffen mit verschiedenen Vereinen organisiert.

Zu diesem Anlass wurden wir, zusammen mit den Vereinen Rete Antirazzista Catanese und Africa Unita, von den Menschen aus dem Sudan sowie von den Gemeinschaften aus anderen Subsaharischen Ländern und Nordafrika empfangen. Bei einer Tasse Tee haben sie uns von ihrem harten Leben als Tagelöhner erzählt und von ihren Sorgen berichtet. Das Hauptproblem fast aller Camp-Bewohner*innen ist dasselbe: sie können weder einen festen Wohnsitz bekommen noch ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern. Das erzählte uns Bari, ein junger Mann aus dem Sudan. Zudem hörten wir, dass sich die offiziellen Behörden aus Syrakus zurückgezogen haben und weder Unterkünfte noch die lebenswichtige Infrastruktur bereitstellen. Hilfe erfahren die Camp-Bewohner*innen einzig von der Gemeinschaft von Padre Carlo, die die Arbeiter*innen unterstützt.

Beim Treffen waren auch Verbände und einzelne Aktivist*innen aus der Provinz Syrakus dabei. Sie zeigten sich bereit dafür, den Bitten der landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter*innen aufzunehmen und ihnen Hilfe zu leisten. Für einen Bewohner, der unter psychischen Problemen leidet, wurde ein freiwilliger Psychologe ins Lager geholt. Bari, Rachid und die anderen erzählten, wie sie sich auf die anstehende Tomatenernte in Apulien vorbereiten. Am Ende der Aussprache verteilten die Mitglieder*innen von Africa Unita dutzende Zelte und Schlafsäcke an die Hilfsarbeiter*innen aus, Sachen die in den Barackensiedlungen Süditaliens überlebenswichtig sind.

Gleich wie auf Sizilien überwiegen auch auf den Feldern Apuliens Ausbeutung und Schwarzarbeit. Diese rauben den Migrant*innen Gesundheit und Leben. Vor einigen Tagen starb ein Hilfsarbeiter aus dem Senegal, Ben Ali Mohamed, bei einem Brand in der Barackensiedlung von Borgo Mezzanone bei Foggia, in der er lebte. In Caltanissetta, wurde vor wenigen Wochen der Pakistaner Siddique Adnan ermordert, weil er sich für die Rechte der ausländischen Hilfsarbeiter*innen eingesetzt hatte, die alle Opfer der Schwarzarbeit sind.

Die Ghettos, die den Hilfsarbeiter*innen auf ihrer Transhumanz durch den Süden einen Unterschlupf bieten, bleiben Orte von Gewalt und Unterdrückung, in denen die Würde und die Freiheiten dieser Menschen vom wirtschaftlichen System brutal unterdrückt werden. So sind die landwirtschaftlichen Helfer*innen gezwungen unter sklavenähnlichen Umständen zu leben.

Die Lager auf dem Land zeigen, dass die Rechte der Geflüchteten, die auf Gedenkveranstaltungen hochgehalten werden, in Wirklichkeit nur Slogans sind. In der Realität auf dem Feld werden diesen Menschen die Grundrechte immer noch verweigert und das trotz internationaler Abkommen und der Verfassung. Diese schmerzliche Praxis reduziert die Migrant*innen auf ihre Arme, die pflücken, und auf ihre Hände, die Kisten mit Tomaten oder Kartoffeln füllen. Cassibile ist dabei nur eine Etappe auf ihrer saisonalen Rundwanderung. Umzingelt von der Komplizenschaft der Behörden, der Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung zu Schwarzarbeit und der illegalen Sklavenwirtschaft ist der Notstand auch nach Covid-19 noch da. Der Unterschied zwischen den Armen und den Privilegierten hat sich insbesondere nach dem Lockdown gezeigt.

In Zeiten der Pandemie arbeiten die Migrant*innen ohne Regelung und ohne Schutz. Sie sind zudem einem steigenden Rassismus sozialer und institutioneller Natur ausgeliefert. Die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen sind weiterhin ein gewöhnliches Phänomen und weit verbreitet, somit blüht die kriminelle Produktion, während der Staat einfach wegschaut.

Dabei müssten Migrant*innen nicht als Schwarzarbeiter*innen auf den Feldern des Südens geopfert werden. Diese Praxis darf weder in normalen noch in außerordentlichen Zeiten geduldet werden. Sie muss solange bekämpft werden bis italienische und ausländische Hilfsarbeiter*innen nicht mehr nur als nützliche Arme gesehen werden, die ausgenutzt und dann vernachlässigt werden können.

Silvia Di Meo
Peppe Platania
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen übersetzt von Elisa Tappeiner