Diese Vereinigung unserer Welten wird unser Rettungsring sein

Hafen von Catania, im August 2014

Abramo (Abraham) sucht in der Menge das Gesicht seines jüngeren Bruders.

„Er hat Somalia verlassen, er muss unter diesen Leuten sein, die vom Schiff kommen, aber ich kann mich nicht nähern. Hilf mir, ich bitte dich.“

Ich gebe ihm die Nummer meines Mobiltelefons und verschwinde in der Menge: auf dem Schiff der italienischen Militärmarine, die damals noch für die Operation Mare Nostrum unterwegs war, befinden sich etwa 200 Personen aus Subsahara Afrika – auch Leute aus Somalia!

Mailand, 20. April 2015

Auf dem Display meines Mobiltelephons blinkt ein Anruf auf. Ich erkenne die Nummer sofort. Meine Hände werden schweissnass, aber ich versuche Ruhe zu bewahren: +88216…. Es sind die Ziffern einer Thurayanummer, des Satellitentelephonsystems das auf den Booten installiert ist, die seit Jahren von der Küste Libyens aus versuchen, Europa zu erreichen. “Help, help, there’s already water in the boat”. „Hilfe, Hilfe, wir haben bereits Wasser im Boot“.

Die Verbindung ist gestört, ich versuche zu verstehen, wieviele Personen auf dem Boot zusammmengepfercht sind, wieviele Frauen, wieviele Kinder und wo sie aufgebrochen sind. Und es muss schnell gehen, denn erst am Tag vorher wurden 800 Menschen vom Meer verschlungen, von diesem Meer, das wir beharrlich als das „Unsere“ – Mare Nostrum – bezeichnen, das aber doch das Meer aller ist. Von da an ertönt mein Telefon ununterbrochen. Ich notiere drei Nummern und benachrichtige die Küstenwache. Die Hilferufe werden immer lauter, genau wie mein Gefühl von Machtlosigkeit, das schliesslich einer unendlichen Erleichterung Platz macht, als ich am nächsten Tag höre, das alle drei Boote gerettet werden konnten. Seit ich Abramo kenne, habe ich etwa 10 Anrufe von somalischen Staatsangehörigen bekommen, die in Libyen auf ihre Überfahrt warten.

Die italienische Küstenwache empfängt die Hilferufe täglich. Die Vereinigung WatchTheMed hat hier freiwillig grosse Verantwortung übernommen. Sie lenkt die Rettungsaktionen dieser Tausenden von Menschen auf der Flucht. Denn deren Überleben darf nicht davon abhängen, ob sie zufälligerweise den richtigen Kontakt im richtigen Moment erreichen oder ob es ihnen gelingt, ein Frachtschiff auf der gleichen Route auf sich aufmerksam zu machen.

Niemand kann in den Spiegel sehen und behaupten, dass die Katastrophe vom Samstag, den 18. April nicht vorhersehbar gewesen wäre. Nicht, nachdem im November 2014, ans Licht kam, dass die Operation Mare Nostrum durch Triton ersetzt werde und angesichts der Tatsache, dass bis heute kein legaler Migrationsweg für die Flüchtlinge geschaffen worden ist, Genauso vorhersehbar war der Exodus hunderter Asylbewerber von den Orten ihrer Ankunft in die Metropolen Europas, und auch, dass dieser Weg über Mailand führt. Leider war Mailand zu sehr mit der „Ernährung des Planeten“ in seiner Vorbereitung der Weltausstellung 2015 beschäftigt. Die Behörden haben „vergessen“, geeignete Empfangsstrukturen für Kinder, Frauen und Männer bereitzustellen, die im Zwischengeschoss der Stazione Centrale oder in den Parkanlagen von Porta Venezia campieren müssen.

Mailand, Stazione Centrale, 23. April 2015

Dutzende von Jugendlichen sitzen auf den Marmorbänken und besprechen sich, sie versuchen sich zu organisieren und hoffen einen Schlafplatz für die Nacht zu finden.

Eine Gruppe Somalier hält sich abseits. Ahmed (nicht sein richtiger Name) spricht besser englisch als die andern und fasst deren Überlegungen in Worte: „Wir haben unser Land verlassen aus Angst davor, umgebracht zu werden, wir hatten keine andere Wahl, denkst Du, wir hätten uns sonst in so einem Boot aufs Meer gewagt?“ „In Libyen haben sie uns alles gestohlen, sie haben uns geschlagen und man gab uns nichts zu essen“ fährt Ahmed fort.

Einige Stunden nach dem Ablegen hat unser Boot zu lecken begonnen. Wir mussten das Trinkwasser ins Meer schütten damit wir die entzwei geschnittenen Wasserflaschen dazu benutzen konnten, das Volllaufen des Bootes zu verhindern. Zum Glück hatte ich die Telefonnummer, die mir ein Freund gegeben hatte, ein Mädchen hat geantwortet.“

„Wann war das?“ frage ich ungläubig. „Am Montag.“

Es braucht keine weiteren Worte. Wir schauen uns in die Augen und vereinen unsere Welten in einer langen Umarmung.

Beatrice Gornati

Aus dem Italienischen von Susanne Tassé