Reportage aus den sizilianischen Sammelunterkünften zur „Aufnahme“ (Juli-September 2014)

Meltingpot – Von Davide Carnemolla

Gerade ist der 3. Oktober vorüber, mit Unternehmungen, die von viele Aktivisten organisiert wurden; sie sind damit den Grundsätzen der Charta von Lampedusa gefolgt und den Forderungen, die in dem Appell „Unser 3. Oktober“ enthalten sind.
Ein 3. Oktober nach Monaten, in denen Tausende von Migranten bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben sind. Die Zahlen auf dem größten Friedhof der Welt steigen immer weiter; allein in 2014 sind mindestens 3000 Menschen gestorben. Aber wem es gelingt zu überleben und wieder an Land zu kommen, der hat nicht wirklich glückliche Zeiten in Aussicht.
Die Überzeugung (oder die Hoffnung), man könnte Rechte haben und eine würdige Existenz, wird schon bald von einer Wirklichkeit erstickt, die aus einem variablen Mix besteht, aber schrecklicher Weise zwei Konstanten beinhaltet: Die Vernachlässigung und die Absonderung. Und das ganze wird begleitet von medialen und politischen Kampagnen, geprägt von Fremdenfeindlichkeit und einer enormen Geschäftsmaschinerie, die in Italien und besonders auf Sizilien die Taschen der Konsortien, Kooperativen, Vereinigungen und Unternehmen füllt, verstreut über das ganze Gebiet der Insel. Und die Situation wird nur schlechter angesichts des bevorstehenden Beginns des repressiv-militärischen Megaprogramms Mos Maiorum-Triton und dem ministeriellen Rundschreiben, mit dem die Registrierung aller in Italien ankommenden Migranten durchsetzt.

Versuchen wir also im Folgenden die Spuren einer kurzen und sicher nicht erschöpfenden „Geographie der unwürdigen Aufnahme“ nachzuzeichnen, indem wir von dem berichten, was wir im Juli und September an verschiedenen Orten im Osten Siziliens gesehen und gehört haben.

Pozzallo und Comiso: Die unendliche „erste Aufnahme“
In Pozallo kommen ohne Unterbrechung Schiffe mit einer immer größer werdenden Anzahl von Palästinensern an. Wir gehen am 19.September zusammen mit Lucia von Borderline Sizilien und Stefania vom Antirassismus-Netz Catania zum CPSA (Sammelunterkunft für erste Hilfe und Aufnahme) (Über dessen Schließung und Wiedereröffnung Anfang September die Informationen reichlich diffus bleiben). Das erste Bild, das wir vor Augen haben, ist das einer Gruppe von Migranten, die, abgesondert im zentralen Gebäude des CPSA, an der Glastür kleben (die geschlossen ist). Es sind die neu angekommenen Migranten und die bleiben eingeschlossen, wie uns auch die Ordnungskräfte am Eingang bestätigen. Bevor nicht alle Prozeduren der Identifikation beendet sind, können sie nicht einmal hinaus in den Innenhof des Lagers, um einen Augenblick frische Luft zu schnappen. Und einigen geht es noch schlechter: „Diejenigen, die gerade angekommen sind, dürfen das Gebäude nicht verlassen, bevor nicht alle identifiziert sind; die Ägypter dagegen schicken wir direkt in die CIE (Sammelunterkunft zur Identifikation und Ausweisung) oder weisen sie ab“, sagt uns ein Polizist des CPSA zur Bestätigung der skandalösen Rechtlosigkeit, von der noch mehr als andere die ägyptischen Migranten betroffen sind. Sie sind vor den Konflikten in ihrem Land geflohen und werden noch Opfer einer kollektiven Abschiebung, die aus der absurden Anwendung einer bilateralen Übereinkunft zwischen Italien und Ägypten hervorgeht, die auf das Jahr 2007 zurückgeht (also in die Zeit Mubaraks). Diese verbietet es ihnen de facto, in Italien einen Asylantrag zu stellen.

Das CPSA von Pozzallo

Migranten im Inneren von
Pozzallo. Außerhalb des Gebäudes sieht man eine Gruppe Jugendlicher, während
man hinter der weißen Tür einige Migranten sehen kann, die im Inneren des
Gebäudes eingeschlossen sind und auf die Prozedur der Identifikation warten. (Fotos:
Antirassistisches Netzwerk Catania)

Außer den eingeschlossenen Migranten (die manchmal Tage oder sogar Wochen hier bleiben) und den Ägyptern, die sofort abgeschoben werden, gibt es noch einige Minderjährige, die im Frühjahr angekommen sind. Opfer einer doppelten Schande auch sie: Noch Monate nach ihrer Ankunft sind sie gezwungen, in einem CPSA zu leben und als Minderjährige haben sie keinen angemessenen Schutz. Wir verbringen den Tag mit vieren von ihnen, damit sie uns von ihren Erfahrungen erzählen. „Mitte September haben sie uns ins CPSA zurückgeschickt, weil das Haus, in dem wir im Sommer gelebt haben, nicht mehr verfügbar war. Ohne uns etwas zu sagen haben sie in der Nacht vor unserer Verlegung unser Gepäck aus dem Haus in das CPSA gebracht. Und am Tag, als wir im CPSA angekommen sind, haben wir gesehen, dass unsere Koffer geplündert worden waren. Wir haben die Polizei gefragt, aber die haben uns gesagt, sie wüssten nichts davon“, erzählt uns einer von ihnen. Und ein anderer fügt hinzu: „Aus Protest haben wir draußen im Freien vor dem Haus, in dem wir wohnten, geschlafen: Es ist absurd, dass sie uns nach den Monaten, die wir schon hier sind, in eine Sammelunterkunft zur ersten Aufnahme zurückschicken!“ „Wir wollen weg von hier, aber niemand sagt uns etwas über unsere Zukunft“, wiederholen sie uns mehrfach. Auf ihrer Überfahrt haben sie viele ihrer Reisegefährten sterben sehen; und haben doch Augen, so sanft und gleichzeitig verschreckt von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Sie suchen ein bisschen Menschlichkeit, die sie bei einigen ortsansässigen Jugendlichen finden, die auf den Straßen von Pozzallo spielen. In einer Mischung aus Italienisch und Englisch tauschen sie Lächeln und Witze aus. Von anderem Klang sind die Beziehungen zu den Arbeitern und den Ordnungskräften im CPSA: „Hier drin respektieren sie uns nicht: Sie schreien immer und manchmal bedrohen sie uns. Wir wenden uns immer höflich an sie, aber sie behandeln uns eher wie Tiere denn als Menschen.“
Nach einigen Tagen erfahren wir, dass diese Jugendlichen gemeinsam mit anderen Minderjährigen in einige Gemeinden in Zentral- und Norditalien verlegt worden sind. (Im Gegensatz zu den sizilianischen Einrichtungen, die am Rande des Kollapses stehen, haben viele noch freie Plätze). Unterdessen bleiben mindestens 40 weitere Minderjährige im CPSA von Pozzallo und warten darauf, eine Zukunft zu bekommen.
Von der Stadt aufs Land ändert sich die Situation nicht sehr. Wie auf dem Rest der Insel entstehen in der Umgegend von Comiso unterschiedliche Zentren zur Aufnahme, ob sie nun CAS (Zentren für außergewöhnliche Aufnahme) genannt werden oder auch nicht. Zu dieser letzten Kategorie gehört das ehemalige Unternehmen Don Pietro. Es liegt auf dem Land, etliche Kilometer von dem ersten bewohnten Ort entfernt. Diese „undefinierte“ Einrichtung ist in der Wirklichkeit eng verwandt mit der Palaspedini (Volleyballhalle) von Catania und den vielen informellen Zentren der italienischen Galaxie des „kreativen Freiheitsentzuges“. Das Zentrum ist mit direktem Draht an das CPSA von Pozzallo angeschlossen. Von dort aus werden einige überlebende Migranten, die gerade auf Sizilien angekommen sind, (unter ihnen eine größere Gruppe, die am 15. September angekommen ist) auf den Weg gebracht.
Und die Überlebenden, die wir Ende Juli in dem ehemaligen Unternehmen Don Pietro getroffen haben, haben 45 Personen im Kühlraum des Fischerbootes sterben sehen, mit dem sie bei ihrer Überfahrt saßen. 45 Personen, unter ihnen Frauen und Kinder, zusammengepfercht und eingeschlossen auf engstem Raum, erstickt. „Sie waren aufgestapelt, einer über den anderen, wie in einem gemeinsamen Grab, das an Auschwitz erinnerte“, hatte einer derjenigen gesagt, die die Leichen im Schiff zuerst gesehen hatten.
Ende Juli begeben wir uns noch einmal nach Comiso, zusammen mit Elio von Borderline Sicilia. Das ist ein Projekt, das in ganz Sizilien eine kontinuierliche Arbeit des Monitoring der Situation und der legalen Unterstützung der Migranten verfolgt.
Wenige Kilometer von dort, in Pozzallo, laufen die Beerdigungen jener 45 Personen ab, die x-ten Opfer der Festung Europa, das die Solidarität heuchlerisch zur Schau stellt, indem sie an die Toten erinnert, wie am vergangenen 3. Oktober, ohne auch nur irgendetwas zu tun , um sie zu vermeiden oder zumindest denen, die Überleben, ihre Rechte zu garantieren.

Das ehemalige landwirtschaftliche unternehmen Don Pietro.

Der Platz auf dem Land, wo das
Unternehmen Don Pietro liegt. Öffentliche Verkehrsmittel und die nächsten
bewohnten Orte liegen Kilometer weit entfernt von diesem Zentrum zur Aufnahme.

Im Gegensatz zu Pozzallo, können die „Gäste“ in Comiso hinausgehen, auch wenn sie in Wirklichkeit durch die Leere schweifen. Wir versuchen, in die Unterkunft hineinzukommen und die Polizisten nach Informationen zu fragen. Sie bleiben aber im Vagen und beschränken sich darauf, uns zu sagen, dass sie eben erst hier angekommen und sehr wenige sind. Sofort danach, auf dem heißen und trostlosen Land, treffen wir in der Nähe des „informellen Zentrums“ zwei Grüppchen von Migranten aus Schwarzafrika, die uns erzählen, wie sie leben. „Wir sind seit Wochen da und wissen nichts über unsere Zukunft“, „Niemand hat uns etwas zum Asylantrag gesagt“, „wir wissen nicht, wo wir sind und wie wir uns von hier weg bewegen können“.
Ein junger Mann, mit offensichtlich leidendem Gesicht, sagt uns: „Ich habe ganz starke Schmerzen im Kopf und an den Zähnen, und die Schmerzmittel, die sie mir gegeben haben, wirken nicht. Nachts kann ich nie schlafen“. Auch das Essen ist mies: „Hier geben sie uns jeden Tag Nudeln mit Tomatenkonzentrat, nicht mit den Tomaten, die sie anbauen“, „mit dem Essen, das sie uns geben, geht es uns schlecht, aber sie hören uns nicht zu“.
Einer von ihnen sagt uns, dass er sich jedes Mal, wenn er versucht, etwas zu essen, erbricht und jetzt fast nichts mehr isst. Ein anderer Jugendlicher erzählt uns, dass sich die Arbeiter des Zentrums oft mit unfreundlichen Sätzen oder auf unfreundliche Art an sie wenden und manchmal auch drohend. „Einmal habe ich nach Pfeffer gefragt, um Geschmack an die Nudeln zu bringen, und sie haben mir geantwortet, wenn ich weiter so mache und sie störe, würden sie die Polizei rufen.“ Dann treffen wir einen Minderjährigen, der uns fragt, warum er seit Wochen hier ist, weil er, wie viele andere, seine Minderjährigkeit erklären soll.
Sie alle warten auf ein Bröckchen an Informationen und sind erschöpft, wegen der Vergangenheit und Gegenwart. Als wir sie trafen, sagten sie uns, dass sie zu 160 da drin wären, aber ein paar Stunden zuvor ist eine andere Gruppe aus dem Zentrum weggegangen. Sie wollen etwas wissen, sie wollen die Rechte haben, die ihnen zustehen. Einer fragt uns: „Kann ich von hier weggehen? Ich bitte euch, mir einen Rat zu geben, sagt mir, was ich tun kann“.
Unter der Hitze, mit dem Tod noch vor Augen, auf der verzweifelten Suche nach Hilfe und Information. Das ist ihr Leben, ein unmenschliches Leben. Sie haben nicht einmal das Recht auf ihren eigenen Namen, sondern „existieren“ nur aufgrund des Plastikbändchens mit einer Nummer aus drei Zahlen und einem Buchstaben, das an ihrem Handgelenk befestigt ist. „Niemand ruft uns mit Namen, sondern sie nennen nur die Nummer, die an unserem Handgelenk befestigt ist. Das sind wir hier. Es scheint, als seien wir in die Zeit der Sklaverei zurückgekehrt“.
Wie könnte man sagen, dass sie Unrecht hätten?

Das CARA (Sammellager für Asylsuchende): Wie man zu Lasten der Migranten lebt -zwischen geführten Besuchen und anderen Unternehmungen zur Fassadenkosmetik
„Wir können jetzt sagen, dass der Großteil der Arbeitsplätze sich darin produziert, die Bewegungsfreiheit der Migranten zu verhindern“. Dieser Satz eines Aktivisten aus Catania beschreibt besser als jede beliebige Rede den unablässig durchgeführten Prozess der Spekulation und Militarisierung zu Lasten der Migranten, und das CARA von Mineo ist dafür eins der am hellsten leuchtenden Beispiele.
Das Konsortium SOL. Calatino und Sisifo verwaltet das Cara seit ungefähr 3 Jahren und heimst einen stetigen Gewinn aus der künstlichen Überbelegung der Einrichtung ein (4000 Migranten gegenüber einer Kapazität von 2000) und aus der schändlichen Langsamkeit der Prozedur der Bewertung der Anträge auf internationalen Schutz (mit einer Wartezeit von bis zu 3 Jahren). Die Leute im CARA sind empört, wie es die wiederholten Versuche der Selbstverletzung bis hin zum Selbstmord zeigen; und die Stimmen über die Lebensbedingungen drinnen erreichen auch die neuangekommenen Migranten. „ Wenn sie uns in CARA schicken, haue ich ab, da kann man nicht menschenwürdig leben“, sagen uns einige junge Männer, die wir im Juli in der Palaspedini in Catania getroffen haben.
Aber der Wegschluss der Migranten ist ein sehr gutes Geschäft für die ganze Gegend und vor allem für die Konsortien, die das alles verwalten und die tatsächlich eine Art von Parallelwirtschaft geschaffen haben, die um die Verwaltung der Migranten kreist. Der Megabusiness des Mega-CARA muss aber präsentabel erscheinen und daher erfinden die verwaltenden Unternehmen von Zeit zu Zeit Hilfsmittel wie die Organisation von Fußballspielen unter den Migranten des CARA; oder sie drehen ein Video, um zu zeigen, wie schön es ist, an diesem Ort zu leben. Ein Bild zu bekommen, das sich von dem unterscheidet, das sie verabreichen wollen, ist fast unmöglich. Die Besuche in der Einrichtung sind immer geführt und mit einer gewissen Vorlaufzeit angekündigt und folglich verwandeln sie sich in eine touristische Tour durchs CARA, die nur das Vorzeigbare zeigt. Und das gilt für alle, von den Politikern bis zu den Journalisten. Einige Journalisten bekommen keine Erlaubnis, das Lager zu betreten, obwohl sie einen Antrag gestellt haben. Das zeigt ein Artikel, der auf einer sizilianischen Online-Zeitung veröffentlicht wurde. Aber wenn es einem – wie es auch das Video, gedreht im April, zeigt – , gelingt, den aufmerksamen Klauen des Führers des CARA zu entschlüpfen, dann entdeckt man die Wahrheit.
Die Migranten sind gewinnträchtige Quellen auch außerhalb der Mauern des CARA. Das Konsortium SOL. Calatino, zum Beispiel, hat über eine Übereinkunft mit der Präfektur 20.000€ eingesackt, als sie die im Palaspedini von Catania untergebrachten 400 Migranten am 1. und 2. Juli mit Essen und Matratzen versorgt hat; so stand es in einem Artikel, der auf der Online-Zeitung Ctzen veröffentlicht wurde. Wir waren perplex, als wir die Zahlen gesehen haben, die für die Matratzen ausgegeben worden sind; die waren, wie von jemandem bestätigt wurde, der sich in die Nähe der Sporthalle begeben hatte, nichts anderes als eine Schicht dünnsten Schaumstoff (und folglich untauglich), um sie auf den Fußboden zu legen. Darüber hinaus hat das Konsortium einige Tage zuvor (am 19. Juli) für den Transport von 47 Migranten von der Palaspedini zum CARA von Mineo auch 1000€ eingesackt. Die Strecke beträgt 54km; dafür braucht man ungefähr eine Stunde: Wir können also sagen, dass die 1000€ für das Konsortium ein gutes Geschäft waren.

Der Palaspedini von Catania: Von der totalen Vernachlässigung zum Monopol der Verwalter des CARA
In Catania bleibt die Situation eher kritisch. Nach dem Bericht, der am 12. Juli veröffentlicht wurde und in dem wir die beschämenden Bedingungen der Aufnahme im Palaspedini angeprangert haben, gab es in den darauffolgenden Wochen noch viel mehr Fälle von Migranten, die sich selbst überlassen waren. Zum Beispiel: Wer am 9. Juli an diesem absolut unerträglichen Ort angekommen war, war gezwungen bis zum Ende des Monats zu warten, bis er in eine andere Einrichtung gehen konnte. In der Zwischenzeit hat er unter katastrophalen Bedingungen gelebt.

Bilder aus dem Inneren von
Palaspedini von Catania, wo die gerade angekommenen Migranten „aufgenommen“
wurden – manchmal für Wochen. (Fotos Sudpress.it und ctzen.it)

Ein junger Mann, im Juli in der
Palaspedini angekommen, mit schweren Verbrennungen am Körper. Obwohl er über
starke Schmerzen klagte und nach Medikamenten fragte, trug der medizinische
Bericht der Notaufnahme / ersten Hilfe die Aufschrift „geheilt“. Wie er, haben
sehr viele andere im Palaspedini beherbergte Migranten (darunter Frauen und
Kinder) keine angemessene medizinische Versorgung erhalten.

Nachdem die Bedingungen der Aufnahme festgestellt und angeprangert waren, wurde im August vom Antirassistischen Netzwerk Catania und von anderen Aktivisten aus Catania ein „Aufruf zur würdigen Aufnahme der Migranten in Catania“ veröffentlich. Darin stellen sie konkrete Forderungen und machen konkrete Vorschläge, um endlich die Rechte und die Würde der Menschen zu garantieren, die in der Stadt ankommen.
Wie von den Aktivisten aus Catania berichtet, wird der Palaspedini leider nach einer kurzen Zeit der Nichtnutzung sowohl Ende August wie auch Anfang September wieder genutzt, um Migranten unter absolut inakzeptablen Bedingungen zu beherbergen.
Nachdem sich die Institutionen und lokalen Firmen gegenseitig die Schuld in die Schuhe geschoben haben, trostlos und kontinuierlich, ist seit September das Konsortium, das auch das CARA von Mineo verwaltet, mit der Versorgung der Palaspedini mit den Gütern des täglichen Bedarfs betraut worden. Dieses Konsortium baut sein eigenes Geschäft aus und kommt so, durch einen unaufhörlichen Prozesses der Privatisierung, dahin, in der Provinz Catania ein Monopol auf die Verwaltung der Flüchtlinge zu haben. Wir begeben uns am 18. September zur Palaspedini und der Mitarbeiter des Konsortiums, der auch im CARA von Mineo arbeitet, verteidigt vehement die Arbeit, die von ihnen geleistet wird. Er behauptet unter anderem, dass das Problem der Überbelegung des CARA nicht bestehe und dass alle dort nach vorhergehender Anfrage friedlich eintreten könnten, ohne dass sie gezwungen werden, eine „geführte Tour“ mit zu machen.
Während wir weggehen, sehen wir neben uns eine Gruppe Syrer (ca. 20) aufbrechen, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Wir viele andere ihrer Nationalität versuchen sie den Bahnhof zu erreichen. Wir geben ihnen einen Fahrplan für Zug und Bus, um Mailand zu erreichen. Sie danken uns und setzen ihren Weg fort, beladen mit Gepäckstücken, um ihre lange und schwierige Reise in das Innere der Festung Europa zu beginnen.

Währenddessen sind am Flughafen Fontanarossa, wenige Kilometer von der Palaspedini entfernt, die Angehörigen der Opfer der beiden gewaltigen Tragödien von Mitte September eingetroffen, bei denen mehr als 600 Menschen ihr Leben verloren haben, vornehmlich Migranten aus dem Gazastreifen auf der Flucht vor den israelischen Bombardements. Familienangehörige, die in vielen Fällen noch keine Informationen über das Schicksal ihrer Lieben haben, ermordet nicht vom Schicksal sondern von den israelischen Bomben, abgeschossen mit der Zustimmung und der Unterstützung Italiens und Europas.

Das Zentrum für Minderjährige in Augusta: zwischen erzählter und gelebter Realität
Mitte September gehen wir immer nach Augusta, Stadt zahlreicher Anlandungen.
In der Nähe des Zentrums ist dagegen die ehemalige Schule Verdi seit Monaten in eine Einrichtung zur ersten Aufnahme von Minderjährigen umgewandelt worden.
Schade aber, dass diese erste Aufnahme mit der Zeit zu einer dauerhaften Aufnahme geworden ist. Im Moment befinden sich ca. 130 Minderjährige in dem Zentrum; so viele „Leben auf Abdrift“, wie Beatrice von Borderline sie richtigerweise nennt, gezwungen, dort Wochen oder gar Monate zu bleiben (einige sind im April angekommen!). Eine skandalöse Situation, in der die Minderjährigen nicht nur nicht den Dienst und den Schutz erhalten, der ihnen per Gesetz zusteht; sie werden auch in der ehemaligen Schule Verdi geparkt, um so eine Situation bis zum Äußersten zu normalisieren, die total unnormal ist.
Am Zentrum angekommen, lässt uns ein Mitarbeiter (davon gibt es insgesamt nur drei, fast nie in gleichzeitiger Anwesenheit) in die Zimmer eintreten. Die Jugendlichen sind nach Nationalitäten getrennt, weil es, wie er uns sagt, dann und wann zu Problemen kommt zwischen den Jugendlichen aus Schwarzafrika und den Ägyptern“. Die Zimmer haben unterschiedliche Größen und in jedem sind im Mittel 10 Jugendliche untergebracht, mit einigen Fällen von offensichtlicher Überbelegung, wenn man auch den Aufenthalt von mittel-langer Dauer von vielen von ihnen in Betracht zieht. Ihre Betten sind Krankenhausliegen, überhaupt nicht geeignet, um sie mehrere Tage zu nutzen. In der Einrichtung bemerkt man den Dreck und Mief, und Bäder und Duschen gibt es nur sehr wenige. Aber die Wirklichkeit, die der Mitarbeiter beschreibt, ist eine ganz andere: „Hier geht es den Jugendlichen gut; tatsächlich haben es einige vorgezogen, hier zu bleiben statt in die Gemeinschaft der Minderjährigen zu gehen“. Aber warum bleiben sie so lange hier? „Die Gemeinden in Mittel- und Nord Italien haben kein Geld, um diese Jugendlichen aufzunehmen und folglich bleiben sie jetzt erstmal hier“, antwortet der Mitarbeiter. Und die Beziehungen zur Nachbarschaft und zur Stadt? „Alles in Ordnung, es sind Jugendliche, die von allen gerne gesehen sind und es gibt überhaupt kein Rassismus-Problem in der Stadt.“ Scheint fast als lebten sie in „The Trueman Show“, ein idyllischer Mikrokosmos, wo die Probleme, wenn es sie denn gibt, unbedeutend sind.

Der Korridor der ersten Etage der
ehemaligen Schule Verdi in Augusta mit dutzenden von Liegen,

eine an der anderen.

Eine Gruppe von Jugendlichen, die
in der Einrichtung beherbergt werden

Aber dann tritt die traurige Wahrheit, schon sichtbar für unsere Augen, als wir die Einrichtung und die Wohnsituation der Minderjährigen betrachten, mit noch größerer Wucht zutage, als wir mit den Jugendlichen selbst sprechen. Wir bleiben bei einigen Jugendlichen aus Schwarzafrika, die uns sagen, dass sie es leid sind, an diesem Ort zu sein „Wir sind seit Monaten hier und wissen nichts über unsere Zukunft“, „wir sind zu viele und das Zusammenleben ist sehr schwierig“. Sie erzählen uns auch, dass sich unter ihnen ein Minderjähriger mit psychischen Störungen befindet und dass er sich mehrmals selbst verletzt hat. Wir treffen ihn sofort danach, während er sagt, mit einem Blick verloren im Nichts, „ich kann nicht mehr, ich will hier weggehen! Bringt mich fort von diesem Ort!“
Und unterdessen kommt ein örtlicher Jugendlicher vorbei und schreit den jungen Migranten mehrmals zu: „Leckt mich am Arsch!“ In der Stadt hat eine Gruppe Freiwilliger des Willkommen-Netzes einen Aufruf gestartet, um Vormünder für diese Jugendlichen und für Italienischkurse zu suchen; auch dies bleibt in Gänze der Initiative der örtlichen Freiwilligen überlassen. Im Moment haben aber nur 10% von ihnen einen Vormund und nur wenige von ihnen gehen zur Schule; all die anderen leben ein eingefrorenes Leben in der Erwartung, wenigstens einen Teil ihrer Rechte zugestanden zu bekommen, die ihnen garantiert werden müssten. Und in der Zwischenzeit wächst die Frustration und steigt das Gefühl der Leere und der Wut dieser Jugendlichen, x-te Opfer des Systems der (Nicht-)Aufnahme, das die Schande und die Verletzung der Rechte normalisiert hat.

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber