Der Schmerz unsichtbarer Wunden

Mehr als vierzig Jahre sind vergangen, seit der Inkraftsetzung des Gesetzes 180 von Franco Basaglia*. Unser nationales Gesundheitswesen sollte sich Fragen stellen darüber, wie es dieses Gesetz verstanden und umgesetzt hat. Der Umgang mit psychischen Problemen ist ein grundlegender Aspekt jeder Gesellschaft, an dem die Tragfähigkeit eines Wohlfahrtssystems gemessen wird, den Verwundbarsten und Schwächsten, Italiener*innen und Ausländer*innen, einen wirksamen Schutz zu gewährleisten.

Auch in dieser Hinsicht, wie in manch anderer, decken die Migrant*innen in Italien die Schwachpunkte unseres Gesundheitswesens auf, das sich in der Theorie als für alle gültig deklariert, in der Praxis jedoch von Diskrimination und Exklusion durchdrungen ist.

Die zahlreichen in Palermo aktiven humanitären Organisationen bemühen sich tagtäglich darum, die Migrant*innen in der Bewältigung der bürokratischen Abläufe zu unterstützen. Nicht nur dabei eine gültige Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, sondern auch dringende tägliche Bedürfnisse zu stillen, wie eine warme Mahlzeit am Tag, ein Schlafplatz und die Möglichkeit zu körperlicher Hygiene. Werden die Meldestellen von Personen mit besonderen Schwierigkeiten, z. B. einer psychischen Beeinträchtigung, kontaktiert, wird intensiv versucht, eine deren Bedürfnissen entsprechende ad hoc Lösung zu finden. Die als „schutzbedürftig“ oder „psychisch beeinträchtigt“ erachteten Menschen befinden sich in noch größeren Schwierigkeiten, nicht nur auf der Suche nach Schutz gewährenden Aufnahmebedingungen, sondern auch in ihrem Bemühen um einen Platz in der „Gesellschaft“.

Auf der einen Seite gibt es nicht genug Aufnahmeplätze für schutzbedürftige Migrant*innen und auf der anderen sind viele von ihnen, die Fürsorge und Betreuung brauchen würden, ohne gültige Dokumente und darum von Behandlungsmassnahmen ausgeschlossen. Es kommt erschwerend dazu, dass eine psychische oder neurologische Beeinträchtigung diagnostiziert und dokumentiert sein muss. Doch der Mangel an ausgebildetem, spezialisiertem Personal in der Erkennung und Therapie von Folteropfern und Opfern von Missbrauch – und vor allem in der Anerkennung dieser „unsichtbaren Wunden“ – macht es noch schwieriger, die Beschwerden der Opfer offiziell nachzuweisen.

Bei den Mitarbeitenden der Anlaufstellen, der Gemeinschaften und Organisationen, die sich bemühen Lösungen zu finden, steigen Frustration und Stress. Grund dafür ist vor allem die Machtlosigkeit vor dem Schmerz ihres Gegenübers und das Fehlen von konkreten und passenden Pflegemassnahmen innerhalb der sozialen Dienste.
Für die Migrant*innen ist es schwierig, ausserhalb der Aufnahmezentren einen Ort ihres Vertrauens zu finden und noch schwieriger ist es für sie, in einem aktiven Prozess der Unterstützung und Rehabilitation Gehör zu bekommen. Ihre Beschwerden werden oft nur als medizinisch-psychiatrische Symptome interpretiert, weshalb versucht wird diese zu versachlichen.

In den meisten Fällen (vermutlich auch weil sofort durchführbar) wird ein Medikament verschrieben, und das, ohne rehabilitierenden Begleitprozess. Hussein, zum Beispiel, wurde in Palermo von mehreren Spezialist*innen betreut. Aber ohne Aufenthaltsbewilligung und auf der Straße lebend, genügten diese Medikamente nicht, um seine körperlichen Beschwerden zu lindern, die ihm den Schlaf raubten und arbeitsunfähig machten.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der nicht vergessen werden darf, obwohl er meist verschwiegen und unterschätzt wird. Die Forschungen von Ernesto de Martino und die Arbeiten von Franco Basaglia zeigen auf, dass „Krankheiten“ auch auf sozialer Ebene erklärt werden müssen, dass Symptome eine Auflehnung gegen die bestehende Ordnung sein können, ein Ausdruck der Demütigung durch die Macht der Gesellschaftsordnung, die den Leidenden ausschliesst. Es wird klar, dass dafür neutrale therapeutische Räume geschaffen werden müssen. Institutionen, die nicht (mehr) der Hierarchie gehorchen, die das psychische Leiden verursacht, sondern Räume der Zugewandtheit zur Person selbst wo diese wirklich zugehört werden. Die Migrant*innen, die unter psychischen Problemen leiden, teilen uns ein größeres Leiden mit, das nicht nur mit den Bedingungen in ihrem Leben zu tun hat, sondern auch mit den Diskriminierungen und der Ablehnung in Italien.

Das Warten auf die Ankunft an ihrem Aufnahmeort, die Bemühungen um die Aufenthaltspapiere, die Suche nach einer sicheren Unterkunft, die Arbeitssuche und die Suche nach Familienangehörigen sind nur einige der Herausforderungen, die die Migrant*innen bewältigen müssen nachdem sie in unserem Land angekommen sind.

Suleyman verbrachte Jahre zwischen Aufnahmezentren, humanitären Einrichtungen und Zeiten in der er obdachlos war, in einer nicht selbstbestimmbaren oder folgerichtigen Entwicklung, sondern stets abhängig von Verhandlungen und dem Kampf um die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte. Wie viele Migrant*innen kämpfte Suleyman nicht nur gegen seine Ängste, sondern auch gegen die langsame und diskriminierende Bürokratie. Nachdem er seinen Berater*innen vertraut, deren Ratschläge befolgt und für seine Rechte gekämpft hatte, wurde er am Ende mit einem ablehnenden Bescheid der Behörden konfrontiert und drohte damit, eine extreme Tat zu begehen: Selbstmord.

Er hatte all seine Kräfte dafür verwendet, um die Anerkennung des internationalen Schutzstatus zu erreichen – „Papiere“, die ihm erlaubt hätten, ein Leben aufzubauen, „Papiere“, die ihn als würdig befunden hätten, ein Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. All diese Anstrengungen waren vergeblich, nur der Suizid schien ihm noch möglich, um zu beweisen, von welch inhärenter Gewalt die Nichtanerkennung der Aufnahmegesuche besetzt ist.
Die arabische Bezeichnung für Zeug*in und Märtyrer ist die gleiche: shahīd, als wäre der Tod an sich schon ein Zeugnis. Vielleicht ist deshalb dies der richtige Begriff, um die Handlung von Suleyman zu beschreiben.

Die Wartezeiten sind oft anstrengend. Die manchmal extremen Reaktionen der Migrant*innen sind Folgen des undurchschaubaren Aufnahmesystems. Ein System, das an die individuellen Grenzen des Ertragbaren stößt und die intimsten Räume des von uns abgelehnten „Andern“, bedroht. Geschichten wie die von Suleyman, wenn auch oft weniger auffällig, sind nicht selten. Es handelt sich auch nicht nur um Akte der Verzweiflung, sondern um Handlungen des Widerstandes gegen die Lebensbedingungen, gegen die Ausschließung und gegen die gesellschaftliche Unterordnung, die viele Migrant*innen erleiden.
Die Ärzt*innen der Praxen, die Betreiber*innen der Aufnahmezentren und die Mitarbeitenden in den zahlreichen humanitären Organisationen in Palermo erleben in ihren zahlreichen Besuchen und Begegnungen mit Migrant*innen deren Leiden: Schlaflosigkeit, Magenkrämpfe, oder sie sind Zeug*innen vom Übergang der totalen Passivität in rasende Wut. Diese physischen und psychischen Leiden erklären sich nicht ausschließlich mit der schulmedizinischen Lehre. Die Behandlung kann darum nicht nur in der Verabreichung eines Medikaments oder noch schlimmer einer Zwangsbehandlung bestehen.

Die therapeutische Unwirksamkeit der schulmedizinischen Maßnahmen beruht auf der Tatsache, dass das System sich hauptsächlich auf die Störung und das Symptom konzentriert und die gelebte Erfahrung der Leidenden nicht einbezieht. Zudem ist der Sozialdienst für Migrant*innen auf Notfälle ausgerichtet. Mangel an Zeit und Ressourcen machen es unmöglich, psychische Krankheiten zu erfassen und zu behandeln. Psychische Krankheiten oder Störungen sollten neu aufgefasst werden, als eine von vielen möglichen Formen, durch die sich soziales Leiden manifestiert. Arthur Kleinman, Veena Das und Margaret Lock schreiben: „…unter sozialem Leiden verstehen wir das Resultat dessen, was politische, ökonomische und institutionelle Macht mit den Menschen macht und andererseits, wie eben diese Machverhältnisse die Antworten auf soziale Probleme beeinflussen können.“

Krankheit ist beides, das individuellste und gleichzeitig sozialste Ereignis für den Menschen. Jede wissenschaftliche Erkenntnis muss durch Einbezug der sozialen Bedingungen überprüft werden und jedes Eingreifen und jede Entscheidung der Beteiligten sollte dies berücksichtigen.

Sofia Agosta

Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera

*Legge Basaglia: geht auf dem italienischen Psychiater Franco Basaglia zurück, welcher die katastrophalen Zustände in den italienischen „Irrenanstalten“ bekannt machte. Am 13. Mai 1978 wurde im italienischen Parlament das Gesetz 180 für die Reform der Psychiatrie verabschiedet, welche u. a. die Abschaffung der psychiatrischen Anstalten verfügte.