Lampedusa und der endlose Notstand

Artikel vom 25. Mai 2021

Wenige Tage nach der Ankunft von mehr als 2.000 Personen auf Lampedusa bin ich auf die Insel gefahren, um die Situation zu verfolgen. Das, was sich in den Tagen, die ich dort verbracht habe, zugetragen hat, ist eine ganz andere Realität als jene, über die, die hiesigen Zeitungen berichten.

Was sich hinter den Notlandungen auf Lampedusa verbirgt

In den vier Tagen auf Lampedusa habe ich im Gespräch mit unterschiedlichen Realitäten und Personen – insbesondere Mediterranean Hope, dem Forum Lampedusa Sociale, Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen der Gesundheitszentren, aber auch mit Fischer*innen und lokalen Händler*innen – eine andere Insel entdeckt, als ich erwartet hatte, anders als ich sie immer gesehen, erzählt und berichtet habe.

Das Narrativ der sogenannten „Notlandungen auf Lampedusa“ wirkt in der kollektiven Wahrnehmung auf drei Ebenen und hat Auswirkungen auf das Leben der Menschen, sowohl jener ausländischen als auch der einheimischen. Der „Notstand“ lenkt die Aufmerksamkeit ab, bereitet die Meldungen vor und rechtfertigt die Maßnahmen.

Selbst wenn anerkannt wird, dass es Tage gab, an denen die Situation außer Kontrolle war und an denen Menschen am Molo Favaloro schliefen – womöglich wiederholen deswegen die solidarischen Menschen auf Lampedusa immer und immer wieder: „Hier gibt es keinen Migrationsnotstand“ und dass die Probleme viel größer und struktureller Art sind.

 

Der „Notstand“ lenkt die Aufmerksamkeit von der „Politik des Todes“ ab

In erster Linie lenkt der „Notstand“ die Aufmerksamkeit von den Toten im Mittelmeer ab. Am 13. Mai sind wieder Menschen, die aus Libyen aufgebrochen sind, auf der Höhe der tunesischen Küste ertrunken. In diesen Tagen hat die Alarm-Phone-Initiative diverse Situationen angezeigt, in denen Schiffe mit einer Motorpanne hilflos im Meer trieben und in denen das Leben der Menschen in Gefahr war. Doch es ist offensichtlich, dass das Leben dieser Menschen nicht den gleichen Wert wie das Leben anderer zu haben scheint und dass darauf abzielt wird, Geschichten und persönliche Erlebnisse auszulöschen. Das gilt umso mehr angesichts der sich abzeichnenden, neuen Strategie der italienischen Regierung und der Europäischen Union in Bezug auf den Grenzschutz und der Auslagerung eben dieser.

So wurden in den letzten Wochen Schiffe mit hunderten Menschen an Bord durch die libyschen Schnellboote in Unterstützung durch Patrouillienflüge von Frontex abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Rettungsschiffe waren weit entfernt von der Straße von Sizilien: Nur die Sea-Eye 4, die schon mehr als 300 Menschen aufgenommen und in Pozzallo an Land gebracht hat, ist im Meer. Alleine in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai sind 683 Menschen von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen worden.

Wenn die Situation weiterhin so andauert, wie sie sich in diesen zwei Wochen abgezeichnet hat – in denen dennoch 2.000 Menschen in Italien angekommen sind, ebenso viele wurden jedoch gestoppt – wird sich das politisch konstruierte Szenarium der vergangenen Jahre festsetzen, das als „verfrühte Abschiebung“ definiert werden kann, oder, etwas geläufiger, als Auslagerung der Grenzkontrolle, bei der sich geopolitische Interessen und militärische Strategien in der Straße von Sizilien vermischen.

Wenn also die Politikerin Giorgia Meloni, aber auch die rechten Politiker*innen Lampedusas, zur Notlandung und zur Notwendigkeit einer Seeblockade aufrufen, merken sie womöglich nicht, dass dies de facto bereits durch den autoritären Umgang mit den Grenzen seitens der aktuellen Regierung umgesetzt wird.

Ein anderer Gesichtspunkt betrifft den Militarisierungsprozess, der nicht nur in Bezug auf das, was im Meer geschieht, von Interesse ist. Wer – wie ich – zum ersten Mal ein Flugzeug in Sizilien betritt und ein Dutzend Polizist*innen in das Flugzeug einsteigen sieht, wird denken, dass sich dabei um Verstärkung für die Bewältigung der von der Presse berichteten Notfallsituation handelt.

Wie mir jedoch Menschen auf Lampedusa berichtet haben und wie auch ich es dort habe beobachten können, ist die Militarisierung der Insel mittlerweile eine strukturelle Tatsache, bei der es Normalität wird, mit bewaffneten Menschen zu reisen und zu leben, ihnen auf der Straße zu begegnen, Mannschaftswagen zu sehen, den Horizont anzuschauen und immer auf Schusswaffen zu stoßen.

Eine nicht sehr beruhigende Perspektive, von der jedoch keiner berichtet – auch, weil die Anwesenheit des Militärs den Hotelbesitzer*innen und Gastwirt*innen, die auf deren erstickende Präsenz keine Antwort geben, eine wirtschaftliche Wiederbelebung verspricht.

 

Sensationsjournalismus und Vorbereitung der Meldungen

Die Insel war voller Journalist*innen, die anlässlich des Berichts über die Notlandungen herbeigeeilt waren, und die de facto das Narrativ der Notlandungen generieren und sicherlich auch nähren – zugegeben, mit einigen Ausnahmen.

Der Kontakt zwischen Händler*innen, Fischer*innen und Journalist*innen hat mich sehr beeindruckt. Während der vier Tage auf Lampedusa habe ich viele Fischer*innen gesehen, die die Bootsdecks anstrichen, viele Händler*innen, die Fassaden weiß tünchten, Vasen vorbereiteten und die Vitrinen in Erwartung des Beginns der Sommersaison putzten. Im Kontext der langsamen Wiederaufnahme des Tourismus ist mit den Journalist*innen, den einzigen wirklichen „Fremden“ auf der Insel, eine mehrdeutige Beziehung des Unverständnisses, der Ironie und des Protests entstanden.

So z.B. als ein Journalist von Mediaset, der auf Sensationssuche war, einen Fischer „Kommen die jeden Tag an?“ gefragt hat, ohne jedoch das Thema deutlich zu machen. Der Fischer, der sich um Fische kümmert und nicht um Menschen, hat „Ja, die Fische kommen jeden Tag“ geantwortet und den Journalisten mit leeren Händen stehen lassen. Ironie wie jene, mit der all die Autofahrer über die Journalisten am Molo Favaloro lachten, die auf die so heiß ersehnte Landung warteten. Protest, wie als sich ein Hotelbesitzer am Hafen über die Journalisten erbost hat, die eine Reportage mit den Schiffen der Migranten im Hintergrund machten: „Mit all den Schiffen, die dort liegen, müsst ihr ausgerechnet jene tunesische aufnehmen. Ich danke euch im Namen aller Hotelbesitzer“.

Und der Sensationsjournalismus, der die Fernsehkameras lediglich auf das vorübergehende Phänomen richtet, ist für die Vorbereitung der Regierungsmeldungen nützlich, die man anhand einer Reihe an Hinweisen sehr klar erahnen kann. Die Innenministerin Lamorgese hat den Notstand bewältigt, indem sie verlauten ließ, man erwarte 70.000 Menschen in diesem Sommer, während sie jedoch in der vorherigen Woche nach Tunesien geflogen war, um mit der Regierung über die Verlängerung der Vereinbarung über die Zurückweisungen der Tunesier*innen zu sprechen.

Kurz davor war Draghi nach Tunesien gefahren, der kürzlich auch Libyen besucht hat, um „die Freundschaft zwischen den beiden Ländern wiederaufzubauen“.

Faktisch wird man in Kürze neue Vereinbarungen mit beiden Ländern verkünden, um den Auslagerungs-Prozess der südlichen Grenze Europas voranzubringen. Die Beziehungen insbesondere zwischen Italien und Libyen sind sehr viel enger und dynamischer, als man glauben lassen möchte. Die Ankunft von 2.000 Menschen an einem Tag ist nicht nur die Konsequenz des ruhigen Meers gewesen, sondern auch von den Machtdynamiken zwischen den Regierenden beider Staaten.

 

Der „Notstand“ rechtfertigt eine gewisse Technik des Migrationsmanagements

Auch nachdem die Menschen in Italien ankommen, bleiben sie auf dem Mittelmeer „gefangen“. Im April wurde im Rahmen einer Reihe an in ganz Italien organisierten, antirassistischer Demonstrationen begonnen, in Bezug auf die Migrationssteuerung von einem „Verdauungssystem“ zu sprechen: Vom Meer geht es in den Hotspot, vom Quarantäneschiff (oft) in Abschiebungshaft. Eine wahrhaftige Kette, im Rahmen derer sich politische Experimente und Entrechtung auf den Körpern der gefangenen Migrant*innen treffen. Und beim Spektakel auf Lampedusa wird der „Notstand“ als Regierungstechnik in Bezug auf die migrierten Menschen verwendet. Das Aufnahmesystem, das sich immer im „Notstand“ befindet, rechtfertigt jede beliebige Sache, indem oft das Gesetz übergangen wird und Maßnahmen als Tatsache durchgesetzt werden. In diesem Kontext verschwinden die Gesichter und die Geschichten der Menschen.

Auf diese Weise ist wenig darüber bekannt, wer in den vergangenen Wochen angekommen ist: 2.000 Menschen, davon 600 unbegleitete, ausländische Minderjährige. Sie kommen hauptsächlich von der Elfenbeinküste, aus Eritrea und Somalia, aus Tunesien und, in geringerer Zahl, aus Algerien und Marokko. Auch ein palästinensischer Junge ist unter ihnen. Daneben sind es auch viele bengalische Menschen, vor allem zahlreiche Minderjährige, die seit einigen Monaten den Weg über das Mittelmeer – als Alternative zur Balkan-Route, auf der es im Winter viel Gewalt und Tod gab – wieder aufgenommen haben. Darunter sind Frauen und Kinder, viele mit traumatischen Geschichten.

Nach der Landung wurden sie in den Hotspot gebracht, wo die Aufenthaltsdauer für den Großteil der Menschen sehr kurz ist. Die meisten wurden auf die Quarantäneschiffe Snav Adriatico und Allegra gebracht, die sich derzeit in Porto Empedocle befinden. Die Minderjährigen sind jedoch nach Sizilien auf zwei Fähren gebracht worden. Ich habe der zweiten Umsiedlung beigewohnt, ganz früh am Samstagmorgen. 120 Minderjährige haben, am Handelspier sitzend, darauf gewartet, auf das Schiff gebracht zu werden, nachdem sie zusammengepfercht auf einem kleinen Van an den Hafen gebracht worden waren, ohne jenen sanitären Prozeduren Aufmerksamkeit zu widmen, die den aktuellen Absonderungsgrad jener Personen, die in Italien ankommen, rechtfertigen sollen.

Foto: Emilio Caja

Am Hafen verteilten zwei Mitarbeiter*innen von Save The Children kleine Führer, erklärten, dass sie alle nach Apulien transportiert werden würden und gaben ihnen schnelle Richtlinien über die Rechte jener Kinder. Der zweiten Gruppe hingegen wurde keine ausreichende Zeit für Erklärungen zugestanden – es musste eingeschifft werden, und zwar schnell – sodass sich viele der Minderjährigen zwar mit dem Führer in der Hand versehen sahen, jedoch nicht wussten, wozu er nützlich sein könnte.

Mit der Hilfe der Quarantäneschiffe wurde das Zentrum in wenigen Tagen fast vollständig geleert. Bei meiner Ankunft blieben nur zwei Frauen und Minderjährige. Unterdessen sind am Freitag weitere 150 Menschen durch drei neue, autonome Landungen (eine aus Tunesien und zwei aus Libyen) angekommen. Die Quarantäneschiffe entpuppen sich als maßgebliches Instrument im Umgang mit den Migrant*innen, indem sie zu treibenden Hotspots werden. Es ist daher kaum überraschend, dass die Regierung soeben eine Ausschreibung für weitere vier Schiffe eröffnet hat.

Trotz der strategischen Anwesenheit von Frontex bei den Landungen wurden keine mutmaßlichen Schleuser identifiziert. Vier tunesische Männer wurden jedoch wegen illegaler Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet angezeigt. Dem Gespräch mit dem Personal der sanitären Einrichtung wurde entnommen, dass niemand zur Poliklinik gebracht wurde, während sich der Arzt des Hotspot-Betreibers, Nova Facility, um die psychologische Verletzlichkeit sowie die leichten physischen Traumata kümmert.
Man kommt also zu einem entscheidenden Punkt: Dem Zentrum, in dem Nova Facility, Polizei, Frontex, UNHCR, ab und an Save The Children und viele Ordnungskräfte wirksam sind. Die Erweiterungsarbeiten des Zentrums sind noch immer im Gange und sind darauf ausgelegt, über 700 Plätze – anstelle der derzeitigen 240 – zu verfügen. Seit mittlerweile fast einem Jahr wird das Zentrum von einem Dutzend Soldat*innen überwacht, die die Zone außerhalb der Zäune entlang patrouillieren, aber die es trotzdem nicht schaffen, die Menschen vom Herausgelangen abzuhalten. Die „Lücke“ öffnet und schließt sich nach einer ganz einfachen Rechnung: Je länger eine Person im Inneren des Hotspots gehalten wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie an einem gewissen Punkt über den Zaun klettern wird, um ins Dorf zu gehen und ein paar Stunden der Freiheit vom bedrückenden Leben im Zentrum zu genießen.

Der Hotspot von C.da Imbriacola, auf Lampedusa – Foto: Emilio Caja

In den kommenden Monaten wird zu beobachten sein, ob der auf den Inseln – auch über Pantelleria muss das Gespräch aufgenommen werden – zwischen den Zentren verbreitete Hotspot-Ansatz und die Quarantäneschiffe dem Druck der Migrationsströme, die durch Wirtschaftskrisen und (Neu-) Entfachung der Konflikte im Mittleren Osten, im Tschad und Eritrea hervorgerufen werden können, Stand halten können. Andernfalls werden wir Szenen überfüllter Zentren wiedersehen, während wir weiterhin ahnungslos sind, was wochenlang auf den Quarantäneschiffen inmitten des Meeres passiert.

 

Erinnerung und Mobilisierung

Auf Lampedusa gibt es jedoch nicht nur dieses militärische und unterdrückende Flechtwerk. Es gibt auch Menschen, die sich in kollektiven, politischen Projekten engagieren, die in der Lage sind, eine andere Perspektive anzubieten.

Das erste widmet sich der lebendigen Erinnerung: Auf dem Friedhof von Lampedusa soll durch Gedenktafeln und Grabsteine, die den namenlosen Toten oder jenen, die einen Namen haben, gewidmet sind, die Würde zurückgegeben werden – wie Yusuf, der im November 2020 im Meer gestorben ist. Infolge des Todes von Yusuf hat das Forum Lampedusa Solidale das Projekt „La coperta di Yusuf“ ins Leben gerufen, das Erinnerungsstücke vereint und die gemeinsames Erbe jener werden, die angesichts dieser Umstände nicht aufgeben wollen.

Eine lebendige Erinnerung zu schaffen ist, wie Silvia di Meo geschrieben hat, keine leichte Aufgabe. Es bedeutet, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, mit dem Verschwinden, der Abwesenheit und auch mit unserem Privileg, Europäer*in zu sein und im Zentrum einer Welt zu stehen, in der wir die Entwicklung lenken und das Leben kontrollieren, in dem das Innehalten unmöglich scheint, in der man nur auf das Leben baut und in der wir nicht wissen – so wie uns diese Pandemie vor Augen führt – was es bedeutet, angesichts des Todes anzuhalten. Die lebendige Erinnerung ist maßgeblich, um die beiden Ufer des Mittelmeers miteinander zu vereinen und dem autoritären, rassistischen und klassenartigen Umgang, mit dem die Grenzen gehandhabt werden, entgegenzutreten.

In dieser Hinsicht wird neuerdings auf Lampedusa auch begonnen, über eine Reihe von gebräuchlichen Worten, auf denen man zukünftige Mobilmachungen aufbauen kann, nachzudenken. Die antirassistische Bewegung Black Lives Matter hat einen Weg aufgezeigt, die jene des „defund the police“ aufgreift (d.h. Entziehung der finanziellen Ressourcen der Polizeikräfte).

Parallel dazu und angesichts der offensichtlichen „Politik des Todes“ an den europäischen Grenzen, bräuchte es – so sagt man auf Lampedusa – die Gesprächsaufnahme über ein „defund the border“ – auch, wenn es offensichtlich ist, dass man angesichts der umfangreichen Investitionen in Grenzschutz und -verteidigung durch alle europäischen Länder von einer nachteiligen Ausgangsposition startet.

 

Emilio Caja
Borderline Sicilia

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Katharina F.