Madi, Houssein, und die anderen Namenlosen

Artikel vom 10. Juni 2021

Aktuell können wir die Hilfsanfragen nicht mehr bewältigen, die uns von migrierenden Menschen erreichen, welche alles verloren haben. Immer häufiger werden sie vom politisch-institutionellen System zu Sklaverei und Unsichtbarkeit verurteilt, die sie physisch und psychisch zerstört.

Diese Arten von Missbrauch wiederholen sich ohne Halt, und haben oft auch den Tod als Folge. Wir versuchen die Aufmerksamkeit weitestgehend darauf zu lenken, doch in letzter Zeit gestaltet sich dies immer schwieriger aufgrund der Hindernisse, die Covid-19 uns in den Weg gestellt hat. Es ereignen sich allerdings immer wieder die von den Institutionen gewollte Schließung und Missbrauchsfälle in den Aufnahmezentren und in den Polizeipräsidien Siziliens.

Das Wort Missbrauch ist unseres Erachtens das angemessenste im Hinblick auf die Zusammenkünfte vor den Polizeipräsidien. Es sind Bilder, die im starken Gegensatz zur Situation stehen, die wir aktuell leben, und in jedem Fall inakzeptabel sind, unabhängig von der derzeitigen Pandemie. Innerhalb des Polizeipräsidiums von Palermo gibt es riesige Räume, doch bis heute hat kein Polizeipräsident darüber nachgedacht, dass es unanständig ist, Menschen wie Tiere zu behandeln, die sich stundenlang zusammendrängen, egal ob Sonne oder Regen. Sie warten auf eine Antwort, die sie oft nicht einmal erhalten. Die immer gleichen Dynamiken des Missbrauchs wiederholen sich jeden Tag für die Verarmten und die Unsichtbaren, in jederlei Kontext, in dem sie leben, gedemütigt und allein gelassen. Covid-19 hat eine bereits inakzeptable Situation noch mehr verschärft und hat noch mehr „Unmenschlichkeit“ verursacht.

Madi ist nur eins der vielen Opfer dieses Systems, das dazu neigt, Menschen zu beseitigen. Er kam 2016 nach Italien und wurde sogleich im großen Aufnahmezentrum von Mineo festgehalten. Seitdem dieses Zentrum offen ist, hat es zur Bereicherung verschiedener Menschen geführt, die politischen Milieus und der organisierten Kriminalität nahestehen, und von denen viele noch heute, trotz verschiedener Prozesse, weiterhin Teil von Kooperativen sind, die im Aufnahmesektor arbeiten. Im Jahr 2019, nach der Ablehnung seines Asylantrags und dem Einspruch, den ein Anwalt aus Rom eingereicht hatte (von der gleichen Situation sind sehr viele weitere Bewohner*innen des Zentrums in Mineo betroffen), wurde er nach der Schließung des Zentrums in Mineo in das außerordentliche Aufnahmezentrum Bellolampo in Palermo verlegt.

Seine Verlegung erfolgte ohne jegliche Überprüfung seines physischen oder psychischen Zustands, oder seiner sozialen Situation – so als hätte es Madi in Mineo nie gegeben. Von Beginn an hatte sich gezeigt, dass er Schwierigkeiten, vor allem psychischer Natur hat, mit vielen Ups und Downs. Die Mitarbeiter*innen des Zentrums haben versucht, ihn zu verstehen und zu unterstützen, aber außerordentliche Aufnahmezentren sind keine Einrichtungen, die zur Aufnahme geeignet sind, insbesondere von Menschen die Probleme haben, die mit einer Form von Schutzbedürftigkeit zusammenhängen. Gegen Ende 2019 hat Madi beschlossen, auf eigene Faust die Einrichtung zu verlassen, trotz der Tatsache, dass die anwesenden Mitarbeiter*innen versucht haben, ihn von der Idee abzubringen. Der letzte Kontakt mit einer Mitarbeiterin im Zentrum ereignete sich im Januar 2020, als er in Deutschland angekommen ist, vermutlich mit der Hilfe von jemandem, der von seinen Schwierigkeiten profitiert hat.

Seitdem ist sein Leben ein schwarzes Loch. Niemand, nicht einmal Verwandte, die in Palermo leben, wissen, was Madi gemacht, wo er gelebt hat, bis zu dem Morgen des vergangenen 3. Mai. An diesem Tag hat eine Mitarbeiterin des außerordentlichen Aufnahmezentrums, rein zufällig, die Leiche eines jungen Mannes identifizieren müssen, der sich auf dem Acker in Bellolampo erhängt hat. „Von weitem sehe ich einen Körper, der vom Baum hängt, ich nähere mich, erkenne die Hände, bin aber nicht sicher, ob er es ist. Ich nähere mich weiter, sehe die rechte Seite seines Gesichts: es ist Madi. Der Körper des Jungen befand sich 10 km von dem Aufnahmezentrum entfernt, das ihn bis Oktober 2019 beherbergte. Ich bleibe dort mit der Polizei, dem Kommissar, dem Personal des Krankenwagens… ich erinnere mich nicht mehr, wie viele Stunden ich dort geblieben bin, unter dem Regen mit der Leiche des jungen Mannes, der vom Baum hing. Wenn ich ihn nicht erkannt hätte an diesem Morgen, wer weiß, ob wir jemals von seinem Tod erfahren hätten.“

Madi ist gestorben, ohne eine Antwort von der italienischen Justiz zu erhalten bezüglich seines Einspruchs, ohne eine angemessene Rechts- und psychologische Hilfe. Madi ist alleine gestorben, in einer von der Politik gewollten und organisierten Einsamkeit.

Dieses System erfordert täglich Opfer, sie verursachen keinerlei Lärm mehr. Wir sind derart daran gewöhnt, dass wenn vier Schwarze Menschen in einem Verkehrsunfall sterben, wir uns nicht einmal mehr die Frage stellen: waren es Söhne, Ehemänner, Brüder von jemandem? Werden ihre Familienangehörigen jemals davon erfahren?

Das System löscht sie aus. Nur manche Kurznachrichten tauchen auf, um nicht darüber nachzudenken und zu reflektieren, dass diese Menschen für unsere Wirtschaft leben müssen, und ihr Tod nur ein unbedeutender Kollateralschaden ist. Wir geben diesen Toten allerdings einen Namen, denn wir wissen, dass für die Toten im Meer, auf der Arbeit, den Toten wegen Elend und Armut, Menschen Verantwortung tragen, in den höchsten Positionen der Institutionen, der Gewerkschaften, bis hin zu unseren Reihen, wenn wir den Blick abwenden und nicht hinschauen wollen.

Das Meer spült auch die Körper jener an, die schon vor langer Zeit in Italien angekommen sind, wie beispielsweise eines Nigerianers ohne Namen, der in den letzten Tagen am Ufer der Fontane Bianche in Siracusa aufgefunden wurde.

Ein unsichtbarer junger Mann, der, um zu überleben bettelte und in einem kleinen Zelt in der Nähe eines Strands lebte, an dem er aufgefunden wurde. Ein namenloser Unsichtbarer, ein weiterer, der auch in diesem Fall schnell von den Nachrichtenseiten verschwinden muss, weil die Sommersaison bald beginnt und Fontane Bianche eine touristische Lokalität ist.

Weitere Tote dieses kriminellen Systems sind die, die weiterhin in den Abschiebegefängnissen oder an den Grenzen geschehen. Um nicht vom Krieg gegen die NGO-Schiffe zu sprechen, die unter fadenscheinigen Vorwänden festgehalten werden, die klar zeigen, inwieweit die Politik die Seenotrettung unterdrücken will.

Vor einigen Tagen wurde von Seiten der Regierung eine zurückhaltende Anspielung formuliert in Hinblick auf das System der Quarantäneschiffe, das abgeschafft werden soll, aber bisher hat sich nichts in diese Richtung getan. Trotz offizieller Erklärungen bezüglich der Tatsache, dass unbegleitete Minderjährige nicht auf die Schiffe gelassen werden, sind sie dort gesehen worden. Dies geschieht möglicherweise, weil im Hotspot von Lampedusa keinerlei Informationen über sie registriert werden, sodass erst auf den Schiffen klar wird, wie alt die Jugendlichen sind. Aber wenn sie einmal auf dem Schiff sind, können sie es erst nach der Quarantäne mit einem negativen Test verlassen. Im letzten Monat sind verschiedene Kooperativen, die Minderjährige aufnehmen, in sizilianische Häfen gefahren und haben die Jugendlichen abgeholt, um sie in ihre Einrichtungen zu bringen. Dies war auch der Fall bei der Anlandung des Schiffs Azzurra in Catania vor zwei Wochen.

Dass die Quarantäneschiffe eine illegale, diskriminierende und menschenrechtsverletzende Praxis sind, haben wir bereits mit dem Fall Houssein gesehen, ein junger Mann, der auf das Quarantäneschiff Allegra am letzten 6. April gestiegen ist. Er hat gleich einen negativen Schnelltest machen können, allerdings war das Ergebnis seines Tests kurz vor Verlassen des Schiffs positiv, und so musste er die Quarantäne von vorn beginnen. Houssein hat schwere psychische Probleme und niemand auf dem Schiff ist sich dessen bewusst geworden, nicht einmal bei der ersten Untersuchung.

Das medizinische Personal des Roten Kreuzes hat dies erst bemerkt, nachdem ein Freund von Houssein mit einem Mediator gesprochen hat. Sodann stellten die Ärzt*innen fest, dass Hussein an einer schweren Nageldystrophie leidet an acht von zehn Nägeln, in der Folge von der Folter, die er in Libyen erleiden musste. Von dieser trägt er weitere Zeichen an seinem Körper, und vor allem leidet er an einer psychischen Verletzbarkeit, die ebenso der erlittenen Gewalt geschuldet ist. Zudem ist der Kontakt zu Housseins Freundin, die mehrere Male vor ihm von libyschen Mördern vergewaltigt wurde, abgebrochen. Houssein wurde als schutzbedürftig erklärt nach einem roten Code, der für Schock und Traumatisierung steht, zwei Wochen nach der Ankunft an Bord.

Am 24. April wurde er nochmals getestet vor dem geplanten Verlassen des Schiffs am 26. April, war jedoch immer noch positiv und wurde für eine dritte Quarantäne isoliert, jedoch alleine, da seine Begleiter*innen negativ getestet wurden. Houssein ist daraufhin wütend geworden, da er wusste, auf dem Schiff alleine bleiben zu müssen, und hat offen gesagt, dass er sein Leben beenden würde, da ihn alle verlassen hätten. Nur als von verschiedenen Seiten Druck ausgeübt wurde, hat man die Einweisung in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses in Catania veranlasst.

In diesen wenigen Zeilen häufen sich vermeidbare Tote, von denen wir seit zu vielen Jahren gezwungen sind zu erzählen, um die institutionelle und systematische Gewalt anzuprangern die dahinter steckt. Wir müssen es weiterhin tun, und die Verteidigung der Rechte nicht schleifen lassen, sodass nie mehr jemand alleine auf dem Meeresgrund oder ohne Namen sterben muss.

Und nochmals entschuldigen wir uns bei Madi, Houssein, und bei vielen anderen unsichtbaren Opfern des ungerechten und kriminellen Systems.

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Alina Maggiore