Die große Flucht

Tempostretto – Weitere 3.000 Menschen sind im Laufe des Wochenendes auf Sizilien an Land gegangen. Die Zeltstadt Messina ist abermals voll und schließt weitere Ankommende nicht aus. Die Daten von Frontex über die MigrantInnenströme und die Migrationsrouten zeigen ein vollständiges Bild jenes Phänomens, das sich nicht nur auf Sizilien beschränkt.
Sizilien, Land der MigrantInnen und der Migrationen. Dreitausend Menschen haben die Küsten der Insel allein an diesem Wochenende erreicht: 17 Kähne haben dem Kanal von Sizilien getrotzt, um den südlichsten Zipfel Europas zu erreichen; die Menschen an Bord sind auf der Flucht vor Krieg und Elend in den jeweiligen Herkunftsländern, ein Großteil von ihnen flieht vor der Hölle der libyschen Haftzentren. Die Häfen von Augusta, Porto Empedocle und Pozzallo, wo weitere 422 Personen an Land gegangen sind, sind überlastet und weitere Schiffe sind im Begriff, die Häfen zu erreichen.

Es herrscht reger Betrieb in Messina, dem Zentrum der “Verteilung”, das nicht in einer Einrichtung besteht, sondern einem Baseballcamp gleichkommt. In der Erwartung, dass die Präfektur die Vorbehalte gegenüber der vorgeschlagenen Gebäude lockert, mit denen sie an der letzten Ausschreibung zum Vergabeverfahren eigens teilgenommen hat, um einen geeigneten Empfangsort für die MigrantInnen zu finden, läuft in der Zeltstadt von Conca D’Ora Hochbetrieb. Nach der Verlegung der 250 Personen, die Ende letzten Monats eingetroffenen waren, wurde diese durch die Verlegung von zweihundert weiteren Personen schnell wieder gefüllt. Es sind alles Männer, zum Großteil syrischer, palästinischer, eritreischer und somalischer Herkunft. Einige von ihnen haben sich während der Identifizierungen schon wieder abgewandt. Die Polizei hat die Kommune bis jetzt nicht über die Ankunft unbegleiteter Minderjähriger informiert.

Laut der Expertin Clelia Marano sei der Palazzo Zanca jedenfalls schon seit gestern Vormittag bereit, weitere Minderjährige in Empfang zu nehmen: Es habe sich tatsächlich schon eine geeignete Einrichtung gefunden und das interdisziplinäre Team sei vorbereitet. In der Zwischenzeit steuern zwei weitere Kähne auf Sizilien zu, diesmal mit Frauen und Kindern an Bord. Insofern können Neuankömmlinge nicht aus unserer Stadt ausgeschlossen werden und so gibt es geradewegs neue Ausschiffungen auf den Kais Messinas. Zwei sizilianische Häfen, jene von Pozzallo und Poro Empedocle, brechen in der Tat zusammen durch das Aufnehmen weiterer 3.000 Menschen. Seit Beginn des Jahres 2014 erreichen die Zahlen der Ankommenden erhebliche Ausmaße. Während 50.000, wie von einigen angekündigt, zunächst als übertriebene Zahl galt, so kann man inzwischen schon von 30.000 Ankommenden sprechen. Dies entspricht praktisch der Hälfte der Personen, die im Jahr 2011 an Land gegangenen sind, ein Jahr, in dem aufgrund der internen Krisen in den Maghrebländern höchster Notstand herrschte.

Den veröffentlichten Daten der europäischen Agentur Frontex zufolge liegt der Trend der Ankommenden über den als „zentrale Route des Mittelmeers“ definierten Seeweg, der hauptsächlich Sizilien betrifft, aber auch Kalabrien und Apulien miteinbezieht, bei 39.800 Menschen im Jahr 2008 und 11.000 im Jahr 2009. Der Tiefstand ist im Jahr 2010 mit 4.500 Ankömmlingen zu verzeichnen. Der Höchststand wird im Jahr 2011, Jahr des Arabischen Frühlings, mit 64.300 Ankommenden erreicht. Im Weiteren sind 15.900 Flüchtlinge im Jahre 2012 und weitere 40.000 im Jahr 2013 zu verzeichnen.

Konkret wird berichtet, dass 40.300 Menschen die zentrale Route des Mittelmeers passiert haben. Diese legten größtenteils auf Sizilien an und setzten sich vor allem aus Menschen dreier Nationalitäten zusammen: Eritreer, mit 9.926 an Land gebrachten Personen im Jahr 2013, SyrerInnen, mit 9.591 Ankommenden und SomalierInnen, mit 4.497 Ankömmlingen. Aber wenn man denkt, dass allein die Route des zentralen Mittelmeers vom Migrationsphänomen betroffen sei, so irrt man sehr. Es gibt inzwischen auch Menschen, die in Kalabrien und Apulien ankommen. Diese stiegen im Jahr 2013 auf 4.994 Personen an, die vorwiegend syrischer (1.912), pakistanischer (956) und ägyptischer (746) Staatsangehörigkeit waren.

Es gibt außerdem die „westliche Route“, welche die MigrantInnen nach Spanien führt. Dieses hat im vergangenen Jahr 6.838 Ankommende registriert – neben den Ankömmlingen auf den kanarischen Inseln: 283 Personen – im Gegensatz dazu steht die sogenannte “Circular route from Albania to Greece”, die von 8.728 Menschen passiert worden ist, die aus Albanien, dem Kosovo und Georgien kamen. 19.951 Personen, die vorwiegend aus dem Kosovo, Afghanistan und Pakistan stammten, haben ihr Glück auf der „westlichen Route des Balkans“ versucht. 24.799 Personen, darunter vorwiegend SyrerInnen, ÄgypterInnen und EritreerInnen, haben dagegen die Ägäis umschifft und den als „Östliche Mittelmeerroute” definierten Seeweg eingeschlagen. Schließlich haben weitere 1.316 Personen die „Eastern Borders route” genommen, die nach Osteuropa führt.

Diese Daten von Frontex, die das vergangene Jahr betreffen, zeigen, wie weit sich das Migrationsphänomen verbreitet hat und unendlich vielschichtig geworden ist, wie wir es aus den Erzählungen über den Notstand auf Sizilien gewohnt sind. Noch gibt es keine offiziellen Daten für das Jahr 2014, aber es werden voll allem viele Menschen auf der Route der Ägäis erwartet, die besonders tückisch ist, auch weil sie länger als der Kanal von Sizilien ist. Verbände und die Zivilgesellschaft verlangen weiterhin die Öffnung der humanitären Kanäle, bis dato leider vergebens. Und wenn in diesen Tagen kein Kahn umgestoßen ist, werden in Pozzallo auf einem Handelsschiff, das weitere MigrantInnen aufgenommen hat, auch die drei Leichname derer ankommen, die die Anstrengungen der Überfahrt nicht überlebt haben.

Eleonora Corace

Aus dem Italienischen von Sophie Muerman