Falsches Gold: nächtliche Ankunft in Palermo und im Regen stehen gelassene Geflüchtete

Die vor kurzem statt gefundene Ankunft von 1003 Geflüchteten in Palermo war ursprünglich für Dienstag, den 6. September um 14 Uhr geplant gewesen, wurde in der Nacht vom Montag jedoch auf Dienstag 20 Uhr verschoben. Um diese Zeit hatte das Schiff Diciotti der Küstenwache bereits angelegt und eine Vielzahl neuer geflüchteter Menschen wartete bereits auf der Brücke. Sowohl Essen, als auch Kleidung und Schuhe wurden erst mit Verzögerung geliefert. Für gewöhnlich liefern private Firmen die Hilfsgüter, die dann von Freiwilligen verteilt werden. Um kurz vor 21 Uhr konnten die Geflüchteten dann von Board gehen. Sie stammen aus den unterschiedlichsten Ländern, darunter Bangladesch, Benin, Gambia, Elfenbeinküste, Nigeria und der Senegal.

Die Atmosphäre bei der Ankunft war zwar einerseits wie so oft von schlechter Organisation geprägt, aufgrund derer häufig voreilige und unnötige Entscheidungen getroffen werden, andererseits zugleich von einer ruhigen und entspannten Haltung des Kontrollpersonals. Die wenigen Journalisten vor Ort konnten ungestört mit den Migrant*innen an Bord des Schiffes reden, bevor diese überhaupt an Land gingen. Für sie sind die ständigen Ankünfte neuer Geflüchteter längst ein alter Hut und daher nicht mehr sonderlich interessant. In der Zwischenzeit streiften verschiedene Polizeikräfte auf der Mole umher, was ein bisschen den Charakter erweckte, es handle sich eher um eine Übung als einen ernsthaften Dienst.

Die Situation wurde zunehmend surreal als die erste Gruppe Geflüchteter von Bord ging. Die Gruppe bestand aus drei arabisch aussehenden Personen, die paradoxerweise jedoch wie Touristen gekleidet waren. Sie wurden von der Polizei zum Ende der Schlange gebracht wo auf dem Quai Tische aufgestellt waren. Daraufhin ging ein groß gewachsener Mann westafrikanischer Abstammung von Bord. Auch er wurde von der Polizei geleitet, genauer gesagt mitgezerrt während seine nackten und dreckigen Füße am Boden schliffen.

Später wurde uns mitgeteilt, dass die ersten drei dem Einsatzkommando übergeben wurden. Es schien uns jedoch eher so, als seien sie Zeugen und hätten den anderen als Schleuser benannt (dies bleibt zum jetzigen Zeitpunkt jedoch unbestätigt).

Die Migrant*innen gingen jeweils zu Hundert von Bord. Die Aktion dauerte weniger als zwei Stunden bevor sie unterbrochen wurde. Daraufhin wurde der Vorgang abgebrochen. Sowohl bei der Polizei als auch bei den anderen Mitarbeiter*innen vor Ort herrschte vorrübergehend Unsicherheit darüber, ob man weitere hundert Menschen von Bord gehen lassen soll oder die Ankunft komplett abbrechen sollte. Man entschied sich daraufhin dafür die Operation komplett zu unterbrechen, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die gesamte Prozedur sehr zeitaufwendig gewesen wäre. Letztlich müssen alle an Land angekommenen Migrant*innen zuerst zur Polizeistation von San Lorenzo gebracht werden, wo ein Foto von ihnen gemacht wird und sie ihre digitalen Fingerabdrücke abgeben. Um ca. 23 Uhr kehrten die Mitarbeiter des Polizeipräsidiums wieder auf die Hauptwache zurück, um mit der darauffolgenden Identifizierung der Geflüchteten zu beginnen. Es wurde uns mitgeteilt, dass diese bis um vier Uhr morgens des darauffolgenden Tages dauern würde. Um sieben Uhr morgens sollten die restlichen Geflüchteten von Bord gehen.

Zuerst gingen die schwächsten Frauen und Männer – hauptsächlich Nigerianer*innen- von Bord. Sie waren bereits zu schwach zum Laufen und wurden daher in Rollstühlen vom Schiff begleitet. Als zuvor beschlossen wurde die Ankunft zu unterbrechen, wurde zunächst sichergestellt, dass zuallererst besonders hilfsbedürftige und schwache Menschen das Schiff verlassen können. Sofort bildete sich eine Schlange besonders ausgehungerter Frauen, die in Rollstühlen ans Ufer gebracht wurden. Das Schiff der Küstenwache lag zu diesem Zeitpunkt bereits drei Stunden im Hafen. Eine Gruppe minderjähriger Flüchtlinge schloss sich den Frauen an und konnte eine halbe Stunde später von Bord gehen.

Als wir den Hafen verlassen wollten, um uns eine nächtliche Pause zu gönnen, wurden wir auf eine Frau im Rollstuhl aufmerksam. Sie war zu schwach, um in den Bus zu steigen, der zum Polizeipräsidium fuhr und um sie herum hatte sich eine Traube Menschen gebildet. Wir hatten den Eindruck, dass man sie trotz ihrer Situation und der Tatsache, dass sie eine der ersten war, die von Bord ging, lieber im Hafen zurücklassen wollte, in der Hoffnung, dass sie wieder zu Kräften kam. Erst später kam man zu der Entscheidung sie müsse ins Krankenhaus gebracht werden.

Die Busse – darunter auch jener, in den die Frau einsteigen sollte – sollten zunächst das Polizeipräsidium ansteuern bevor sie weiter Richtung Norden fahren sollten: Nach Kampanien, Lazio, in die Abruzzen, nach Umbrien und Venetien. Sechs davon sollten zum Hotspot von Milo (Trapani) fahren.

Die übrigen etwa 400 an Bord gebliebenen Migrant*innen (die offizielle Zahl von 370 erscheint uns etwas zu gering) sollen erst am darauffolgenden Morgen das Schiff verlassen. Ihnen wurde von den Offizieren der Küstenwache, die zweifellos gestresst und müde waren, zugerufen, „sich in die Schlange einzureihen, sich hinzusetzen“ und „nicht mehr zu stehen“. Sie erhielten Pakete mit Lebensmitteln sowie die inzwischen berühmten goldenen Wärmefolien.

Die goldenen Folien, die in der Dunkelheit des Hafens glänzten, und die Versuche von Migran*innen sich für die Nacht zusammen zu rollen, um eine bequeme Schlafposition zu finden (gegen die Anweisungen der Küstenwache) erzeugten Geräusche. Es sind Geräusche, die zweifelsohne den Eindruck verstärken, dass es sich um falsches Gold handelt… Die Decken werden sie in dieser Nacht in Palermo nur minimal vor dem Sturm schützen. Es ist eine Nacht, die lediglich von den Blitzen über Monte Grifone erleuchtet wird.

Um kurz nach sieben Uhr morgens ging die Ausschiffung weiter. Obwohl sich das Unwetter bereits gelegt hatte, regnete es noch immer. In der vorigen Nacht waren die Migrant*innen gezwungen auf der Brücke des Schiffes unter freiem Himmel, bei Wind und Wetter auszuharren. Am Körper trugen sie lediglich die Kleider mit denen sie gekommen waren sowie die goldenen Rettungsfolien. Seit Jahren kommen nun schon Migrant*innen am Hafen von Palermo an und man fragt sich wie es nach dieser langjährigen Erfahrung noch möglich ist, dass bei einer Ankunft erneut hunderte Menschen immer noch einfach in der Kälte stehengelassen werden.

Während der Ankunft stellte sich heraus, dass die Kontrollen des vorigen Abends vergeblich gewesen waren: Junge Frauen, circa 30 Minderjährige sowie Männer mit Verletzungen an den Beinen waren unter den Personen, die auf dem Schiff zurückgelassen worden waren. Unter ihnen auch ein traumatisiertes Mädchen aus Nigeria. Ohne ein Wort zu sagen machte sie einen verwirrten Eindruck. Sie schien nicht zu verstehen, was um sie herum geschah und war nicht einmal in der Lage die Kleidung und das ihre angebotene Essen anzunehmen. Zum Glück kümmerten sich sofort einige kompetente und mitfühlende Freiwillige um sie.

Nach den Gräueln in Libyen und der lebensgefährlichen Überfahrt auf dem offenen Meer müssen die Neuankömmlinge in den nächsten drei Stunden 20 Meter zwischen Wasserpfützen auf dem Asphalt entlanglaufen, um Kleidung und Schuhe zu erhalten.

Die spektakuläre Vorgehensweise bei der Ankunft des Schiffes könnte nicht deutlicher erschienen, um 23 Uhr sah man den Bürgermeister von Palermo im Gespräch mit einem niederländischen Journalisten auf einer Bank sitzen und über die Bewegungsfreiheit reden hörte. Nur wenige Meter von ihnen entfernt stand ein kleiner afrikanischer Junge, der von drei Save the Children-Mitarbeiter*innen begleitet wurde. Wenige Stunden später waren die Kameras verschwunden, während die jungen Leute weiterhin an Bord des Schiffes im strömenden Regen ausharren mussten. Den minderjährigen Jungen wird zweifellos dasselbe Schicksal derer ereilen, die bereits vor ein paar Tagen angekommen waren und daraufhin in ein Notfallzentrum in die Via Monfenera gebracht wurden. Wenn man nun zum Bahnhof von Palermo fahren würde, würde man sie sehen, eritreische Jugendliche (zum Teil nur 14 oder 15 Jahre alt), ohne einen Euro in der Tasche, laufen sie immer noch mit den provisorischen Schlappen herum, die sie bei ihrer Ankunft erhalten haben und versuchen einen Weg zu finden, um nach Mailand zu kommen. So wie bei den raschelnden Decken scheint es sich auch bei dem Schauspiel des Bürgermeisters und der unzähligen Organisationen vor Ort (UNHCR, IOM, Save the Children, die verschiedenen Polizeikräfte) um falsches Gold zu handeln: Noch immer gelingt es weder eine Ankunft gut zu organisieren noch gelingt eine Weiterführung der Migrant*innen in ein System, das sie wirklich schützt, oder in dem zumindest ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden.

Richard Braude

Aktivist des antirassistischen Forums Palermo

Aus dem Italienischen von Marlene Berninger