Besuch des hochspezialisierten Zentrums für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Ragusa

Am 13. April 2015 hat in Ragusa ein hochspezialisiertes Zentrum für unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge geöffnet, das von der Genossenschaft „Zusammen für
das Leben“ geführt wird. Wir besuchen die Struktur, die sich in den Räumen des
ehemaligen Hotels Rafael an der Hauptstraße der Stadt, nur wenige Schritte von
der Kathedrale entfernt, befindet. Das Gebäude erstreckt sich über mehrere
Geschosse und hat auch zwei Terrassen und eine kleine Veranda, die zu einem Gässchen
hin ausgerichtet ist, und wo sich heute bei Sonnenschein viele der jungen
Menschen, die hier leben, gesammelt haben. Ich werde von den anwesenden
Mitarbeitern und dem Verantwortlichen empfangen, der sich sofort bereit
erklärt, mir die Situation im Zentrum zu erläutern.

Die Struktur ist von der Präfektur berechtigt, 37 Minderjährige aufzunehmen
und momentan ist sie komplett belegt. Die Jugendlichen kommen hauptsächlich aus
frankophonen Ländern, wie Mali, Senegal, Guinea und der Elfenbeinküste, jedoch sind
auch junge Männer aus Nigeria, Gambia und Ägypten dabei. Das Durchschnittsalter
der Gäste beläuft sich auf 17 Jahre, es sind aber auch Jüngere dabei, wobei
niemand jünger als 14 Jahre ist. Alle sind ab dem 12. September angekommen.
„Der vom Gesetz vorgesehene 90-tägige Aufenthalt ist bis jetzt respektiert
worden – erklärt mir der Verantwortliche – aber das bedeutet nicht, dass das
Verfahren nicht eingeleitet wurde, oder dass Integrationsaktivitäten zugunsten
der Jugendlichen nicht angefangen worden wären“. Wir sprechen dann alle die
Aufnahme von Minderjährigen betreffende Probleme an und insbesondere die Frage
der Vormundschaft. „Das Gericht in Catania hat mich gerade informiert, dass die
Akten, die die Minderjährigen betreffen, die bis zum 12. September angekommen
sind, so gut wie abgearbeitet sind. Demnach werden unsere Jugendliche die
nächsten sein, weil sie eben an diesem Tag angekommen sind. Dank der
Vorgehensweise, die auch vom Gericht in Catania bestätigt wird, die das
zeitlich begrenzte Anvertrauen von Minderjährigen einem Mitarbeiter der
Struktur ermöglicht, konnten wir schon vorab das Formular C3 von denen
ausfüllen lassen, die sich dahingehend geäußert hatten, dass sie
internationalen Schutz beantragen wollen und infolge dessen deren Einschulung
in die Wege leiten. Für die Minderjährigen aus Ägypten hingegen werden wir auf
die Ernennung eines Vormundes seitens des Gerichtes warten müssen“. Wir
tauschen uns bezüglich der Schwierigkeiten dieses Verfahrens aus, das das
Risiko mit sich bringen kann, dass die Ernennung eines Mitarbeiters der
Struktur zum Vormund sich zeitlich ausdehnen kann, was zu Folge haben könnte,
dass die Überparteilichkeit des Vormundes darunter leiden würde, wobei sie zum
Schutz des Minderjährigen unabdingbar ist. Der Verantwortliche stimmt überein,
dass dieses Verfahren nur zum Vorteil der Jugendlichen benutzt werden darf und auch
nur, um das Allernötigste zu erledigen, bis zur Ernennung des geeigneten Vormunds.
Und so, bestätigt er mir, ist bis jetzt auch im Zentrum verfahren worden. Die
Minderjährigen kommen hierher aus verschiedenen Gebieten Siziliens,
hauptsächlich jedoch nachdem sie in Augusta, Catania oder im nahegelegenen
Hafen Pozzallo angelandet sind. Unter denen, die in andere Strukturen untergebracht
wurden, gibt es einige, die in Ragusa geblieben sind und die manchmal, so wie
auch heute, vorbeischauen. In der Struktur arbeiten drei Mitarbeiter, zwei
Nachtwächter, zwei Rechtsanwälte, ein Psychologe, ein Berufsberater und zwei Sprachmediatoren, die sowohl Französisch
als auch Arabisch sprechen. Alle Mitarbeiter sprechen jedoch ziemlich gut
Englisch und Französisch und, um mit Minderjährigen zu kommunizieren, die eine andere
Sprache sprechen, werden im Notfall andere Sprachmediatoren hinzu gerufen.
Einmal in der Woche ist ein Arzt in der Struktur anwesend und die Jugendlichen,
die schon Papiere haben, haben auch eine Gesundheitskarte. Die Mitarbeiter von Save The Children kommen oft, um einfach
mit den Jugendlichen zu reden und haben jetzt einen Weiterbildungskurs für die
Mitarbeiter angeboten, der voraussichtlich in den nächsten Monaten stattfinden
wird. Den Minderjährigen wird einmal im Monat ein Taschengeld bar ausgezahlt und
sie bekommen neue Telefonkarten. Für das Essen ist hingegen ein externer
Caterer zuständig und in letzter Zeit versuchen die Köche vermehrt, mit den
Bewohnern die Menüs abzusprechen. Im Gespräch mit den Jugendlichen kommen keine
Beschwerden diesbezüglich auf.

Wir sitzen zusammen im Büro des Verantwortlichen und unser Plausch wird oft
von den Jugendlichen unterbrochen, die
entweder nur grüßen oder etwas fragen wollen. Die Atmosphäre zwischen
Mitarbeitern und Bewohnern scheint entspannt und vertraulich zu sein. Wir
drehen nun eine kleine Runde durch die Struktur: Es gibt 23 Schlafzimmer, jedes
mit eigenem Bad und zwei Stockbetten, jedoch sind höchstens drei Betten je
Zimmer belegt. Es gibt neben Büroräumen weitere Gemeinschaftsräume, wie einen
großen Wohnraum, der an die Veranda angrenzt, wo die Mahlzeiten eingenommen
werden und z.B. jetzt einige Jugendlichen dem Italienischkurs folgen. „Eine der
ersten Sachen, die wir hier angehen, ist die Schulanmeldung“, erzählt mit der Verantwortliche.
„Der jüngste Bewohner ist an der Grundschule angemeldet und er ist so herzlich aufgenommen
worden, dass wir alle, und wahrscheinlich sogar er, erstaunt waren. Sonntags
wird er von seinen Schulkameraden nach Hause zum Essen eingeladen und so hat er
schon etliche Familien hier in der Stadt kennengelernt. Deswegen sind wir ja
sehr bemüht, dass er, wenn er das Zentrum verlassen wird, hier in Ragusa
bleiben kann und nicht woandershin muss, wo er wieder von vorne anfangen muss“.

Die Schule scheint alle Jugendliche zu begeistern, auch wenn von denen, die
älter als 16 Jahre sind, bis jetzt nur 20 die Möglichkeit hatten, an den
Abendkursen teilzunehmen. Einigen von ihnen lernen auch autodidaktisch und
sitzen dafür auf der Veranda, wo ich am nächsten Morgen einige antreffe. Der
Gemeinschaftsraum ist der Treffpunkt um Musik zu hören, ein wenig die Sprache
mit den Mediatoren zu üben, insbesondere für diejenigen, die Arabisch sprechen
oder, so wie in meinem Fall, um einfach mit jemanden zu plaudern. „Für mich ist
es einfacher geworden mit dem Handy zu sprechen“ – sagt mir O. – „auch weil ich
erst seit kurzem hier bin und noch niemanden in der Stadt kenne. Deswegen rede
ich mit meinen Freunden und Verwandten, die in Holland, England und verteilt in
Europa leben. Sie haben mich ermutigt, als ich den Entschluss fasste, mein Land
zu verlassen. In meinem Land hast du nicht die gleiche Sicherheit, wie hier in
Europa: Wenn du auf der Straße unterwegs bist, kann dir alles Mögliche
widerfahren und niemand beschützt dich“. Auch A., der neben seinem Freund sitz,
bekräftigt diese Aussage: „Es ist wahr: Hier geht es uns gut. Und ich will in
Italien bleiben. In meinem Land, in Guinea, habe ich studiert und deswegen kann
ich sieben Sprachen sprechen, unter ihnen Französisch und Englisch. Ich konnte
aber dort nicht mehr bleiben: Deswegen
habe ich eine Reise unternommen, die zwei Jahre und acht Monate gedauert hat;
Ich habe in Algerien sehr hart gearbeitet und versucht durch Marokko nach
Spanien zu gelangen, schaffte es aber nicht und musste deswegen durch Lybien
reisen“. Wie A. wollen auch viele andere Jugendliche nicht weiter über ihren
Aufenthalt in Lybien erzählen, von dem einige teilweise noch deutliche Spuren
auf der Haut tragen. „Für uns ist es immer noch erstaunlich zu sehen, wie sich
die Jugendlichen innerhalb von zehn Tagen verändern“, erklärt uns ein
Mitarbeiter. „Man sieht das auch ganz klar auf den Fotos, die zu einem späteren
Zeitpunkt für die Papiere benötigt werden. Schon nach einigen Tagen hier ist
ihr Gesicht wieder das Gesicht von Jugendlichen, die Anstrengungen und Ermüdung,
die vor und während der Reise das Gesicht aufgezehrt hatten, weichen schnell einer
fröhlicheren Miene“. Es ist auch
deswegen sehr wichtig, dass das Fachpersonal den Jugendlichen hilft, der
Kommission die Schwere der Lage, in der sie sich befunden haben, begreiflich zu
machen und sie von der Notwendigkeit des Schutzes und der zukünftigen
Sicherheit zu überzeugen und somit den Minderjährigen die Unterstützung zu
gewähren, die eine solche Struktur vor allen Dingen garantieren sollte.

Am lebhaftesten sind einigen Jungen aus Ägypten, die von einem Zimmer zum
nächsten flitzen und mit dem Handy Musik hören. „Viele von ihnen gehen raus, treffen
sich mit Landsleuten und spielen dann Fußball auf einem nahegelegen Spielplatz.
Jetzt haben wir die Genehmigung ersucht, einen weiteren Platz am Ende der
Straße benutzen zu dürfen, aber das Ganze geht hier sehr langsam voran und man
muss viel Geduld haben“, ergänzt der Verantwortliche. M. zeigt mir einige
Zeichnungen, die an der Wand hängen: „In Gambia habe ich Stoffe und Kleider
gezeichnet. Genau das will ich hier auch machen. Ich habe viele Amerikaner und
Engländer kennengelernt, die in meine Stadt kamen, um die Techniken zu
erlernen, die ich anwendete. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass, wenn ich es
schaffe, meinen Namen bekannt zu machen, meine Zeichnungen und meine Kleider
auch in Italien wertgeschätzt werden. Ich darf meinen Beruf leider in meiner
Heimat nicht mehr ausüben“. Viele Projekte für die Zukunft und viel Geduld im
Warten auf die Zukunft! Sicherlich ist die Tatsache, dass man nicht mehr ganz
alleine ist, schon an und für sich ein Vorteil und ferner, sagt M. „Ich bin
sicher, dass deine Möglichkeiten steigen, je mehr Mut du in der Suche danach zeigst“.
Und man komm nicht umhin, ihm Recht zu geben.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia Onlus

Aus dem Italienischen übersetzt von Antonella Monteggia