„Halbe Menschen“

Es ist schon 7 Uhr abends, aber die Sonne sticht immer noch. Kein Schatten auf der Autostraße durch die Felder, die vom kleinen Stadtzentrum von Marina di Modica ins Landesinnere führt.
Vor uns auf seinem Fahrrad, mit einem Rucksack auf den Schultern, radelt S. Er ist schweißgebadet und gezwungen, die Strecke ins Zentrum von Marina di Modica so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Zusammen mit anderen 27 Migrant*innen ist er seit kurzem in einem der neuen Aufnahmezentren der Provinz Ragusa untergebracht. Die Kooperative Azione Sociale, die bis vor einem Monat den Hotspot in Pozzallo geführt hat, betreibt dieses neu eröffnete Zentrum sowie eine neue Einrichtung für Migrant*innen in Modica.


Ph. Lucia Borghi

Es handelt sich um einen ehemaligen Bauernhof inmitten von Lagerhallen und Treibhäusern, der einige Kilometer von Marina di Modica entfernt, nur über eine unasphaltierte Landstraße erreichbar ist, die von der Hauptstraße abzweigend über viele Kurven ins Landesinnere führt,
Bei unserer Ankunft stellen wir uns der Gruppe von 5 Migranten vor, die vor dem Eingang sitzen. Sofort gesellt sich eine der Verantwortlichen zu uns und fordert uns auf, eine Besuchserlaubnis für eine mögliche Besichtigung des Zentrums einzuholen.
Sie erklärt, dass sich das Zentrum noch in der Startphase befinde, nur einen Monat nach der Eröffnung. Sie seien sich der abgelegenen Lage der Unterkunft bewusst. Man wolle sich mit Kleinbussen organisieren für den Transport in die Stadt. Bis heute befänden sich hier 28 erwachsene Männer, einige von ihnen kämen direkt von Pozzallo. Mehr ist über die Kooperative nicht zu erfahren. In den folgenden Tagen versuchen wir die Verantwortlichen telephonisch und schriftlich zu erreichen, leider ohne Erfolg.
Es gelingt uns aber mit den anwesenden Migranten ein paar Worte zu wechseln. Sie freuen sich, denn wir seien die ersten Besucher außer den Betreibern. Seit einem Monat seien sie hier isoliert und litten darunter in diesem Niemandsland.
Die meisten kommen aus zwei kürzlich geschlossenen Aufnahmezentren: in Chiaramonte Gulfi der Opera Pia Istituto Rizza Rosso und in Modica der Kooperative Virtus. Fast alle von ihnen sind seit mehreren Monaten oder Jahren in Italien. Einige sind direkt vom Hotspot in Pozzallo hierher transferiert worden. Vor unserer Verabschiedung bekräftigen sie, dass sie alle hier unter einem Gefühl von „lebendig Begrabensein“ leiden, wegen der totalen Abgeschiedenheit, in der sie sich befinden und dass viele von ihnen von alleine weggehen, aus Angst verrückt zu werden innerhalb weniger Monate.
Wir wissen, dass die Migranten keine Wahl haben, aber zum Glück sind sie willensstark. Einige von ihnen, die die Überfahrten überlebt haben, warteten jahrelang auf Papiere. Sie haben versucht zu überleben und haben sich hier eingelebt. Sie versuchen aus der Nichtexistenz und der gesellschaftlichen Ausgrenzung auszubrechen, zu der diese Art von Aufnahmepraxis sie verdammt. So treffen wir einige von ihnen in den Straßen von Marina di Modica wieder, wo sie sich fast täglich hinbegeben – um Besorgungen zu erledigen, Telefonkarten zu kaufen und um Kontakte zu knüpfen mit anderen Menschen, trotz der vielen Kilometer Fußmarsch unter der Sonne.


Ph. Lucia Borghi

„Wir wollen nicht in Luxushäusern wohnen oder wer weiß was für Dinge besitzen. Wir akzeptieren es, zu sechst in einem Zimmer zu schlafen (wo ab und zu, da wir auf dem Land leben, auch Schlangen Eingang finden), keine sauberen Toiletten und schlechtes Essen zu haben, wie im Hotspot in Pozzallo. Wir brauchen nur das Nötigste. Das einzige Problem, das uns quält, ist, dass wir wirklich isoliert und weit weg von allem sind“, meint einer von ihnen.

Durch den Transfer ins neu eröffnete Aufnahmezentrum waren viele von ihnen gezwungen, die zwar in den Anfängen steckenden Kontakte und Bindungen zum Ort, wo sie seit Monaten untergebracht waren, wieder aufzugeben. Für andere ist die Distanz zu Arbeitsmöglichkeiten (zu Schwarzarbeit auf den Feldern oder Almosen statt Entlohnung) zu groß geworden, sodass sie die Strecke zu Fuß oder ohne Fahrrad nicht mehr zurücklegen können.

Besonders unsichere Lebenssituationen und Ausbeutung werden so durch noch erniedrigendere und gefährlichere Bedingungen abgelöst. Unter den „neuen Gästen“ des Zentrums befinden sich mindestens 5 als volljährig registrierte Jugendliche, die seit Monaten zu erklären versuchen, dass sie minderjährig sind. Ihnen wurde lediglich übermittelt, dass sie warten müssten, bis die Kommission ihren Fall geklärt hätte. Als Minderjährige stünde ihnen besonderen Schutz zu. Stattdessen werden sie, unsichtbar für die zuständigen Institutionen, die Nichtregierungsorganisationen und die hiesige Bevölkerung ihrem Schicksal überlassen. Das gleiche geschieht auch für andere schutzbedürftige Migrant*innen, die vorher bei Psychologen und Psychiatern in Behandlung waren. Der Transfer in ein SPRAR, eine Einrichtung mit Betreuungsangeboten, scheint nicht einmal in Erwägung gezogen zu werden.

„Wir essen und schlafen im Zentrum. Wenn wir nicht in die Stadt gehen, ziehen wir uns am Abend ins Haus zurück, denn wir werden draußen von den Mücken und Fliegen aufgefressen. Man gibt uns das Pocket Money für unsere Telefonkarten. Noch nie haben wir eine Italienisch- oder andere Schulstunde gehabt. Es gibt viele leere Betten hier, darum werden noch mehr Leute kommen, und die einzelnen werden noch weniger zählen“, befürchtet A. der seit mehr als einem Jahr in Italien ist. „Eine Gruppe hat schon zweimal gewaltlos demonstriert, um an einen weniger einsamen Ort verlegt zu werden. Als Antwort auf diese Aktionen ist die Polizei gekommen. Sie haben die Protestierenden nach Ragusa mitgenommen, wo sie ein auf Italienisch verfasstes Dokument unterschreiben sollten. Viele haben nichts davon verstanden. Es wurde ihnen geraten, zu unterschreiben, denn das sei nötig für ihren Transfer. Darauf fanden sie sich auf der Straße wieder. Nur drei von ihnen wurden mit einem Bus ins Zentrum zurückgebracht. Da haben sie realisiert, dass sie aus dem Zentrum ausgeschlossen wurden – gestrichen von den Listen für Mahlzeiten und einen Schlafplatz.“ Einer der drei aus dieser Gruppe zeigt uns die schriftliche Aufhebung ihres Aufenthaltsrechts im Zentrum.
Wurde versucht ein Dialog zu führen über die Bedürfnisse der Migranten, bevor die Polizei gerufen wurde?
Wurde über das Beschwerderecht gegen diese Maßnahme informiert oder über die Möglichkeit der Versetzung in ein anderes Aufnahmezentrum, um ihnen die Eingliederung in eine der lokalen Gemeinden zu erleichtern?

Laut der Bewohner geschah nichts von alledem. Wir werden sehen, was die Verantwortlichen darauf antworten. Vorfälle wie dieser hier ereignen sich immer öfter. Denn das Fehlen von regelmäßiger Arbeit und Bezugspersonen öffnet Tür und Tor für solch extreme Maßnahmen, um diejenigen zu entfernen, die sich nicht passiv den Anordnungen von oben unterziehen. Die stetigen Neuankünfte werden die herausgeworfenen Migranten ersetzen, deren Rechte bleiben ungeschützt.

Die Wahl eines solchen Standortes für den Betrieb eines neuen Aufnahmezentrums zeigt deutlich, dass es nicht die soziale Eingliederung und die Interaktion der Migrant*innen mit der lokalen Bevölkerung ist, die den Behörden wichtig ist, sondern lediglich die unabdingbare minimale Versorgung erfüllt werden soll.
Das permanente Betonen der Notfallsituation rechtfertigt die Wahl solch ungeeigneter Örtlichkeiten nicht, auch nicht die fehlende Berücksichtigung der Schutzbedürftigkeit und Bedürfnisse der Migranten. Was wir hören ist das „ohrenbetäubende Schweigen“ der Institutionen und Organisationen, die sich rühmen, für die Rechte der Geflüchteten einzustehen und dabei mehr an Bekanntheit für sich selbst herausholen, als für die Machtlosen, für die sie einstehen sollten. Wir warten darauf, mit denen ins Gespräch zu kommen, die dafür verantwortlich sind.

„Sehr wahrscheinlich betrachten sie uns als halbe Menschen, ohne andere Bedürfnisse als zu essen und zu schlafen“, meint C. bevor wir uns verabschieden. „Uns an solche Orte zu schicken, bedeutet, nicht zu sehen, dass wir Menschen sind.“

Lucia Borghi

Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne