Die schmutzige Propaganda über Libyen

Am 21. Mai 2018 fand in Syrakus in den Räumlichkeiten der Ortygia Business School eine Konferenz statt “zur Information der Zivilgesellschaft über das, was zurzeit in Libyen geschieht”. An der Diskussion nahmen teil: ein Moderator, der Vizepräfekt von Syrakus Filippo Romano, der Botschafter Italiens in Libyen Roberto Perrone, der Leiter der UNHCR Mission in Libyen Roberto Mignone und Othman Belbeisi, der Chef der Mission der IOM (Internationale Organisation für Migration) in Libyen.

Der Vizepräfekt hat die Konferenz eröffnet mit einigen Worten zur Rolle Syrakus als Vorzeige-„Modell“ für den Umgang mit Immigration.Darauf folgte eine soziophilosophische Analyse des Phänomens der Migration an sich. Er hat betont, dass seit den Vereinbarungen zwischen Italien und Libyen im Februar 2017 die Ankünfte um 60% zurückgegangen seien. Darum könne man sich mehr auf die bereits anwesenden Migrant*innen konzentrieren und in deren Aufnahme investieren. Die Motivationen dafür, eine gelungene Aufnahme zu gewährleisten, seien sowohl humanitärer Natur, als auch aus Gründen der öffentlichen Ordnung heraus, denn “ohne Einhaltung der öffentlichen Ordnung ist eine gute Aufnahme nicht möglich.”

Der Vizepräfekt Romano hat an Schwierigkeiten in der Region Sizilien erinnert, die entstanden sind, weil auf nationaler Ebene die Umverteilung der Migrant*innen ungenügend organisiert war. Mit Nachdruck, aber “von einem politisch neutralen Standpunkt aus” hat er die Hotspots verteidigt. Wenn man der “Realität mit zu viel Sentimentalität begegne”, sowohl von rechts als auch von links, dann verurteile man auf populistische Art das, was er als “eine zivilisiert organisierte Ankunft, um den Migrant*innen ein Dach über dem Kopf zu geben” bezeichnet.

Darauf ergriff Botschafter Perrone das Wort: Italien sei das einzige Land Südeuropas, das auf der zentralen Mittelmeerroute liege, und darum habe die Immigration in Italien spezielle Charakteristiken, die auf ebenso spezifische Art und Weise die Aufnahmebedingungen und -praxis prägten.

Perrone beschrieb die zentrale Mittelmeerroute als “ein kriminelles Phänomen, zusammengesetzt aus transnationalen Organisationen“, die „Migrant*innen missbrauchen und die für die inakzeptable Zahl von Toten im Mittelmeer verantwortlich sind“. Laut des Botschafters stand Italien aufgrund dieser Tatsache vor die Wahl gestellt: entweder die Ankünfte übers Meer als Tatsache zu akzeptieren oder zu versuchen, die Migrationsströme einzudämmen, sich den kriminellen Organisationen entgegenzustellen und die Libyer bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen.

Italien hat die zweite Option gewählt, nämlich „eine vollumfängliche Zusammenarbeit mit Libyen auf Regierungsebene. Um den Menschenhandel zu unterbinden braucht es mehr Kontrolle durch die libyschen maritimen Sicherheitsbehörden und eine Verbesserung der Inhaftierungszentren“. Diese Kooperation hat „konkrete Resultate“ gebracht, wie den Rückgang der Ankünfte in Italien um 60%, der auch vom Vizepräfekten betont wurde.

Der Botschafter hat weiter das Vorgehen der Nichtregierungsorganisationen kommentiert, die nach der libyschen Küstenwache einträfen und in die Rettungsaktionen eingriffen und so das Leben der Migrant*innen in Gefahr brächten. „Wenn ich ein Migrant wäre, würde auch ich ins Meer springen bei der Ankunft der Boote der NGOs.“

Perrone versicherte: „In den Inhaftierungszentren hat sich die Situation sehr verbessert dank des Einsatzes von Italien und der NGOs; die Überbelegung konnte gesenkt werden. Es wurden Freizeitbeschäftigungen organisiert und die Inhaftierungsbedingungen humaner gestaltet.“ Der Botschafter unterstreichte, dass die Haftbedingungen der von der libyschen Küstenwache aufgegriffenen Migrant*innen „nicht perfekt seien“, aber wenigstens würden sie nicht in die Hände von Schleppern geraten.

Er wiederholt die Unabdingbarkeit der gemeinsamen europäischen Verantwortung für die Migration, denn „die Migration ist eine menschliche Tatsache und darf nicht von Schleppern organisiert, sondern muss in die Legalität zurückgeführt werden.“

Roberto Mignone, Chef der UNHCR Mission in Libyen, setzte mit seinem Redebeitrag die Konferenz fort.

Er gestand, dass die Nichtregierungsorganisationen, auch UNHCR, in Libyen unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten, denn Libyen habe die Genfer Konvention von 1951 nicht unterzeichnet und weder UNHCR, noch der Flüchtlingsstatus seien dort anerkannt. UNHCR arbeite aus diesem Grund als UN-Behörde in Libyen und könne mit libyscher Genehmigung Personen aus folgenden Staaten Unterstützung gewähren: aus dem Yemen, dem Südsudan, aus Nigeria, Somalia, Eritrea, Syrien, Iraq, den Oromo aus Äthiopien und Personen aus Darfur im Sudan.

Roberto Mignone unterstreicht, dass die Libyer selbst humanitäre Unterstützung durch UNHCR bräuchten. Innerhalb Libyens gäbe es eine halbe Million Vertriebene. Auch darum stünde das Problem der Migrant*innen dort nicht an erster Stelle.

Nach einem kurzen Kommentar zu unterschiedlichen Bedingungen der sozialen „Integration“ von jeweils arabisch sprechenden Migrant*innen und solchen aus Subsahara-Afrika beschrieb der Leiter von UNHCR die Operationen seiner Organisation. „Solange die Migrant*innen in den Händen der Schlepper sind, können sie nicht identifiziert werden“, und so werden diese „bei der Anlandung in Libyen nach deren Rettung zur See und der Rückführung durch die libysche Küstenwache registriert.“ UNHCR arbeitet zurzeit an sechs Stellen in den Häfen, wo die Befragungen beginnen und in den Inhaftierungszentren fortgesetzt werden. Im Jahr 2017 wurden 1.080 Besuche der Organisation in den Zentren (deren Zahl bald reduziert werden soll) durchgeführt, und 520 in diesem Jahr.

Roberto Mignone erläuterte, dass die Migrant*innen identifiziert werden, dass sie humanitäre Hilfe erhalten und falls sie schutzberechtigt seien, eine Anfrage für deren Entlassung an die libyschen Behörden verfasst wird. 2017 wurden 36.000 Personen medizinisch versorgt; 1428 wurden entlassen und konnten ins Community Center des UNHCR transferiert werden, wo sie registriert und, wenn möglich, ihre Angehörigen kontaktiert wurden.

Der Leiter der UNHCR-Mission in Libyen berichtete weiter, dass in Sabratha im Oktober 2017 während der schweren Kämpfe zwischen Milizen „15.000 Migrant*innen, darunter 2.200 potentielle Geflüchtete, in unterirdisch gelegenen, nicht offiziellen Gefängnissen eingeschlossen wurden.“ Mignone erzählte weiter: “Seit einiger Zeit genügt die Anfrage zur Entlassung von Geflüchteten nicht mehr.“ Die libyschen Behörden erlauben Entlassungen nur noch, wenn die Überführung in einen Drittstaat wie der Tschad oder Niger garantiert ist. Die Plätze in den Durchgangszentren sind knapp, aber er ist eine Aufstockung auf 40.000 geplant.

In diesen Ländern verbleiben die Geflüchteten in Erwartung einer Überführung nach Europa, ein Prozedere das mit viel zu langen Wartezeiten verbunden ist. Seit Februar sind von 1.020 Personen nur 25 nach Europa transferiert worden. Für die nächsten Rücküberführungen sind zwei Flüge vorgesehen, einer davon anfangs Juni vor allem für besonders Schutzbedürftige wie Frauen und Kinder. Dies geschieht um Europa ein starkes Signal zu senden. 
Mignone hat bestätigt, dass UNHCR die Inhaftierungen nicht befürwortet und darum mit den libyschen Behörden ausgehandelt hat, dass in Tripolis ein von der Organisation geführtes Transitzentrum mit 160 Plätzen errichtet wird, mit einer möglichen Aufstockung auf 1.000 Plätze. Zum Juli soll das Zentrum bereitgestellt werden. „Das Zentrum wird eine Klinik, einen sakralen Raum und Räumlichkeiten für Kinder beherbergen. Es soll verhindern, dass die nach ihrer Rettung im Meer zurückgeführten Geflüchtete in die Internierungslager zurückgebracht werden.“

Der letzte, der sich in der Konferenz zu Wort meldete, ist Othman Belbeisi, Leiter der Mission der Internationalen Organisation für Migration in Libyen. Er wollte über die Situation in Libyen mit Informationen anhand von Zahlen in diesem nordafrikanischen Land mehr Klarheit schaffen. Libyen hat 6 Millionen Einwohner*innen. 90% von ihnen sind Staatsangestellte, darum werden die meisten Migrant*innen im Privatsektor beschäftigt. Die libysche Wirtschaft ist darum auf die Arbeitskraft der Migrant*innen angewiesen. Vor der Staatskrise waren das 1.4 Millionen Menschen. Trotzdem ist „deren Regularisierung für Libyen keine Option, angesichts der Bedürftigkeit der eigenen Bevölkerung und der Angst vor einer unkontrollierbaren Welle von Zuwanderer*innen.“

Laut der IOM leben im Jahr 2017 95% der 662.248 Migrant*innen in Libyen außerhalb der Inhaftierungszentren unter schlechten Lebensbedingungen. Die restlichen 5% sind unter noch schlechteren Bedingungen inhaftiert. Belbeisi hat betont, dass die IOM aus Prinzip nicht in den Haftzentren arbeiten wolle und deren Schließung gefordert habe, jedoch arbeite sie zurzeit trotzdem dort.

Er berichtete, dass die Interventionen der libyschen Küstenwache in den letzten vier Monaten des Jahres 2018 um 30% zugenommen haben und dass die aufgegriffenen Migrant*innen in die Inhaftierungszentren zurückgebracht werden. Obwohl von Libyen anderes Verhalten gegenüber der Migrant*innen verlangt wurde, sieht die IOM keine Verbesserung. Die Gebiete werden von verschiedenen Gruppen mit lokalen Verbindungen kontrolliert, die je eigene Standards für die Behandlung von Migrant*innen durchsetzen. Nicht einmal die Küstenwache sei einer einzigen Autorität unterstellt. IOM habe sich darum entschieden, mit der Küstenwache des Verteidigungsministeriums zusammenzuarbeiten.

Das Gesundheitswesen in Libyen sei zusammengebrochen, daher gestalte es sich schwierig, Menschen in Not zu unterstützen. Belbeisi berichtete, dass seine Organisation jene Migrant*innen unterstützt, die freiwillig heimkehren. Sie werden begleitet bei der Reintegration in ihren Herkunftsort um dort eine neue Existenz aufzubauen. „Die freiwillige Rückkehr wird von uns nicht propagiert, aber es ist eine gute Alternative für Personen, die sich dafür entscheiden“, meint der Vertreter von der IOM. ”Parallel dazu wird mit 18 libyschen Grenzgemeinden das Gespräch gesucht. Deren Führer sollten einen gemeinsamen Plan erarbeiten zur Kontrolle und Verbesserung der Infrastruktur auf ihrem Territorium. Es werden Alternativen angeboten für jene, die keine Schlepper werden wollten, die aber keine anderen Verdienstmöglichkeiten haben.“

Am Ende der Vorträge bleibt noch etwas Zeit für Meldungen aus dem Publikum, aber Antworten auf unbequeme Fragen werden nicht gegeben.
Aus dem Abschluss der Konferenz muss ein wichtiges Detail aus einem Statement des Botschafters und des Vizepräfekten festgehalten werden: „Libyen ist ein Staat, der, trotz seiner Instabilität, über eine anerkannte SAR (Search And Rescue)-Zone verfügt, und nicht darauf verzichten wird, die Einhaltung seiner Grenzen zu verteidigen.“ Zudem „ist es nicht erstrebenswert, die Institutionen eines souveränen Staates zu ersetzen, es ist eine Zusammenarbeit angeraten, um die Einsätze in Libyen an die Notwendigkeiten der nächsten Jahre sinnvoll anzupassen.“

Die Voten dieser Konferenz stehen in klarem Kontrast zu den direkten Aussagen jener, die durch die libysche Hölle gegangen sind, und zu den verschiedenen internationalen Berichten, die die unmenschlichen Bedingungen in den Zentren und das politische und institutionelle Chaos anprangern: all das begünstigt die Vormachtstellung der Milizen, Menschenhändler und der organisierten Kriminalität.

Für uns ist es unannehmbar, dass sich die Politik der Begrenzung der Migrationsströme (auch in Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen) auf Maßnahmen stützt, die Tote und Gewalt verursachen, die als kollaterale Folgen abgetan werden, an die sich die Öffentlichkeit längst gewöhnt hat. Wir aber werden nie aufhören, das anzuklagen.
Redaktion Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne