Augusta: Besuch des Flüchtlingszentrums für Minderjährige

Zwei Lieferwagen der Carabinieri stehen vor dem Erstaufnahme-Zentrum für nicht begleitete Minderjährige in Augusta. Mindestens sechs Polizeibeamte sitzen vor dem Tor und beobachten die Einrichtung. Bereits an der Schwelle des Gebäudes, einer ehemaligen Schule in Via Dessiè, kann man die Verwirrung und das Durcheinander, welches in der Luft liegt, fühlen. Am Eingang verbreitet ein Fernsehgerät laut kommerzielle Musik. Einige Jugendliche sitzen auf alten Schulstühlen und schauen mit versunkenen Augen auf den Bildschirm, ohne den Menschen neben ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Im Eingangsbereich trifft man außerdem auf einige Männer vom Zivilschutz, eine Sozialassistentin, Mitarbeiter von Emergency und viele Jungs, die rein und raus laufen, sich ausruhen und lachen.
Der Korridor, gleich nach dem Eingang, ist bedeckt mit vielen, aneinander gereihten Liegen. Da die Einrichtung direkt von der Gemeinde Augusta geleitet wird, sind hier Mitarbeiter vom Zivilschutz tätig. Sie arbeiten bis 22 Uhr, danach werden die Minderjährigen allein gelassen ohne jegliches Überwachungssystem. Zurzeit sind im Zentrum zwischen 150 und 200 Jugendliche untergebracht. Einige sind erst vor zwei Tagen angekommen, andere hingegen warten bereits seit Monaten darauf in eine besser geeignete Struktur übersiedelt zu werden.

Ein Mitarbeiter vom Zivilschutz bietet mir an, mir das Zentrum zu zeigen. In Zimmern und Korridoren herrscht ein Durcheinander von Schlafliegen. Viele ägyptische Jugendliche sitzen in ihren Zimmern, reden spielen und rauchen. Viele von ihnen scheinen nicht älter als 14 Jahre alt zu sein. Überall herrscht große Unordnung: Kleider, Müll, Decken, Papier … der Mitarbeiter, der mich herumführt, versucht die Jugendlichen zum Aufräumen zu überreden. „Sonst schicke ich euch nach Portopalo“, sagt er irgendwann. Daraufhin erklärt er mir, dass einige dieser Minderjährigen von Augusta nach Portopalo umgesiedelt worden waren, und dass sie die Mitarbeiter dort anflehten wieder nach Augusta zurückkommen zu können. Warum genau viele Minderjähre nicht in Portopalo bleiben wollten, weiß er selbst nicht genau, aber es scheint ihm als würde die Atmosphäre im etwas südlicher liegenden Dorf niemand zu gefallen. „Vielleicht sind die Menschen dort kälter und verschlossener“, sagt mir der Mitarbeiter vom Zivilschutz. „Die Bevölkerung von Augusta ist sehr freundlich zu den Minderjährigen, es wird für sie gekocht, sie werden herumgeführt und besucht. Wegen des großen Hafens sind die Menschen seit je her an Unterschiedlichkeiten gewöhnt und es ist nicht befremdlich für uns wenn wir Fremde in unseren Straßen sehen.“ Die Jugendlichen bestätigen die Bereitschaft und Wärme die ihnen Nachbarn und die Gemeinschaft von Augusta entgegen bringen. Auch das Verhältnis zu den Mitarbeitern im Zentrum scheint sehr gut zu sein, es wird zusammen gescherzt und gelacht. „Sie sind wie Brüder für uns“, sagt man mir, „wir haben die Jugendlichen so sehr ins Herz geschlossen, dass es uns leid tut, wenn sie wo anders hingebracht werden.“

Trotz der nicht anzweifelnden Wichtigkeit eines freundschaftlichen und lebhaften Umgangs zwischen Minderjährigen und Mitarbeitern, handelt es sich hier doch um ein Notstandszentrum für unbegleitete Minderjährige und es mangelt an Personen und Diensten welche in allen Zentren dieser Art präsent sein müssten. Sicherlich, neben dem Zivilschutz arbeiten hier auch Mitarbeiter von Emergency, Ärzte vom Sanitätsbetrieb der Provinz (ASP) sind zusammen mit kulturellen Mediatoren tätig und es gibt sogar Freiwillige, die ehrenamtlich italienisch Kurse anbieten und, wie es scheint, sehr gute Arbeit leisten. Trotzdem verbringen die Jugendlichen die meiste Zeit alleine, ohne kulturelle Mediatoren und qualifizierte Mitarbeitern an ihrer Seite.

Des Weiteren haben bis jetzt nur wenige damit begonnen, sich um ihre Dokumente zu kümmern. Es wundert mich daher auch nicht, dass sich viele Jugendliche dazu entschließen das Zentrum zu verlassen, um alleine ihr Glück zu versuchen. Viele sind müde vom langen Warten und wissen nicht, wie sie die Zeit totschlagen sollen. Sie sind es nicht gewohnt, den ganzen Tag lang nichts zu machen und sich der Passivität der Sommerhitze hinzugeben. „Ich bin müde vom Schlafen“, scherzt ein junger Nigerianer, mit dem ich mich auf dem Flur unterhalte. Andere Bewohner des Zentrums bestätigen, dass sie sich zwar als sehr glücklich schätzen ein Dach über dem Kopf zu haben und genug Essen zum statt werden, sie erwähnen jedoch auch die Missstände vor Ort. Es gibt nicht genug Hygieneprodukte, die Essensversorgen ist laut ihnen unangemessen und es werden ihnen keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, um nach Hause telefonieren zu können.

In einer Straße im Zentrum treffe ich zwei der Jugendlichen. Sie haben sich vor einen Supermarkt gestellt und fragen nach Almosen. „Es ist das einzige, das wir machen können“, sagen sie mir. „So können wir unsere Mobiltelefone aufladen und uns etwas zum Essen kaufen. Andere versuchen auf diese Art und Weise genügend Geld zu sparen um abzuhauen.“ Die beiden sind vor zwei Monaten angekommen und hatten noch nicht die Möglichkeit ihre Familien zu verständigen. Sie machen einen traurigen und trostlosen Eindruck, aber sie können nichts anderes tun als warten.

Irene Leonardelli
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner