Borderline Sicilia 2019: Vernetzung, soziale und rechtliche Unterstützung und die Klage über Rechtsverletzungen

Auch während des gerade zu Ende gegangenen Jahres haben wir dutzende Männer, Frauen und minderjährige Migrant*innen gegen Abschiebung, Ablehnung, illegale Umsiedlungen, Schutzverweigerung, Ablehnung der Verlängerung und der Änderung der Aufenthaltsgenehmigung, sowie Missbrauch von Seiten der Institutionen unterstützt.

Viele dieser Menschen sind besonders verletzlich und schutzbedürftig, haben aber von Seiten der zuständigen Betreiber der Zentren nicht die in ihrer physischen und psychischen Situation benötigte medizinische Versorgung und angebrachte psychologische Unterstützung erhalten. Diesen Menschen konnten wir in Zusammenarbeit mit dem Verein Medici per i diritti umani (Me.d.u. – Ärzte für Menschenrechte) beistehen.

2019 spitzte sich die Situation der besonders schutzbedürftigen Migrant*innen auf Sizilien weiterhin zu. Dies geht auf die Kürzung vieler Dienste, die von der Einführung der Sicherheitsdekrete bestimmt wurde, zurück. Zudem wurde allen besonders schutzbedürftigen Migrant*innen, welche Nicht-Inhaber*innen internationalen Schutzes sind, die Aufnahme in den Sprar/Siproimi* Zentren verweigert. Die Aufnahme besonders Schutzbedürftiger wird noch durch den Mangel an Dienstleistungen in den Provinzgebieten und fehlendem geschulten Personal zur Identifizierung der Opfer von Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung erschwert.

In Italien angekommen, werden den Migrant*innen, welche die libysche Hölle und die Reise über das Meer überlebt haben, in den Hotspots und CAS* weitere „Verletzungen“ zugefügt. Hier sind sie gezwungen, unter demütigenden Umständen zu leben und ohne jegliche Form von Betreuung oder Hilfe zu erhalten, die allerdings dringend notwendig wäre.

In diesem Kontext dürfen wir auch die Behandlung nicht verschweigen, die den sogenannten Schleusern zuteilwird, ob sie nun dazu gezwungen wurden oder aus einer Notlage heraus gehandelt haben. 2019 haben wir weiterhin dutzende Migranten begleitet und unterstützt, denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen wurde. Viele von ihnen sind noch sehr jung und ihre einzige Schuld ist es, das Boot gefahren zu haben, mit dem sie in italienische Gewässer gelangt sind, wobei sie meist von libyschen Menschenhändlern bedroht wurden oder einzig vom Überlebenswillen angetrieben wurden.

Die Wunden, die das italienische System zufügt, bleiben auch den Verwandten der Opfer von Schiffsbrüchen nicht erspart, denn ihnen wird nur zu oft die Bergung oder Identifizierung der Körper ihrer Lieben verweigert. Doch dank der tunesischen Organisation Terre pour Tous und ihrer Zusammenarbeit mit den italienischen Organisationen Borderline Sicilia, LasciateCIEntrare, Rete Antirazzista Catanese und Carovane Migranti wurden im Dezember 2019 vier tunesische Frauen von der Staatsanwaltschaft in Agrigent angehört, und konnten so den Tod ihrer Kinder bei dem Schiffsunglück vor Lampedusa am 7. Oktober anerkennen lassen.

 

Sicherheitsdekrete und die Maßnahmen zur Sensibilisierung und Berichterstattung

2019 war ein weiteres Jahr im Zeichen von „Krieg“ gegen die NGOs und wiederholtem Kräftemessen. Dabei hat der ehemalige Innenminister Frauen, Männer und Kinder, die tagelang an Bord der humanitären Schiffe festsaßen, für seine Propaganda benutzt und so politischen Druck auf die Institutionen der Europäischen Union ausgeübt.

Des Weiteren hat unsere Arbeit auf dem Festland es ermöglicht, die Konsequenzen der Sicherheitsdekrete und vor allem die der Aufhebung des humanitären Schutzes aufzudecken.

 

Im Laufe des Jahres 2019 haben wir mehrere Menschen unterstützt, welche Opfer des Verkaufs falscher Verträge wurden. Viele Migrant*innen – von denen einige sich bereits seit einigen Jahren in Italien befinden – konnten aus denselben Gründen, aus denen auch der humanitäre Schutz aufgehoben wurde, ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr erneuern. Infolgedessen sind sie in die Hände von Betrüger*innen geraten, die gegen Bezahlung hoher Summen ihnen einen Job mit Arbeitsvertrag versprochen haben, welcher für die Umwandlung der Aufenthaltserlaubnis notwendig ist. Der Verkauf von Arbeitsverträgen, Wohnsitzen oder falschen Pässen, sowie die Ausbeutung der Arbeitskraft von Migrant*innen sind Praktiken, die schon immer existiert haben und seit Jahren von uns angeprangert werden. Diese Phänomene werden durch Normen wie die des Sicherheitsdekrets nur noch verbreitet und vervielfältigt, und sorgen für einen Anstieg der Zahl illegal oder unsichtbar lebender Menschen.

Außerdem haben wir zahlreiche Asylsuchende rechtlich unterstützt, damit sie ihren Wohnsitz anmelden und sich einen Personalausweis ausstellen lassen können, um so Zugang zum Gesundheitssystem zu bekommen.

Unsere Reaktion auf die direkten Auswirkungen der Einwanderungspolitik der letzten Jahre war in erster Linie eine besonders vielseitige Aktivität in den Bereichen Information und Bildung, die sich an Migrant*innen, Vereine aus diesem Bereich und die Öffentliche Meinung richten, bei der wir vor allem Fachtagungen, Runden TischenSeminare und Workshops organisiert haben oder daran teilgenommen haben.

 

Das Monitoring auf sizilianischem Gebiet

Parallel zu den Aktivitäten in den Bereichen Orientierung und rechtliche Unterstützung, sowie zu Sensibilisierung und Bildung, haben wir 2019 weiterhin die illegitimen Praktiken beobachtet, die sowohl von institutionellen als auch von nicht-institutionellen Akteuren fortgehführt werden. Infolgedessen können wir besser über die Einwanderung nach Sizilien berichten und die schlechte Aufnahme, sowie die Rechtsverletzungen gegenüber Migrant*innen anprangern.

 

Rettungsschiffe

Auch 2019 war weiterhin das Jahr der „geschlossenen Häfen“. Wir haben die Arbeit der Rettungsschiffe Sea Watch, Iuventa und Mare Jonio, aber auch die der Italienischen Küstenwache unterstützt. Vor allem aber haben wir gemeinsam mit Rete Antirazzista Catanese und dem katholischen Verein Punto Pace Pax Christi aus Catania das Fehlen einer ministeriellen Genehmigung zur Hafeneinfahrt der Sea Watch 3 nach der Rettungsaktion vom 19.01.2019 angeprangert, sowie auch die unmenschliche und erniedrigende Haltung der Schiffsbrüchigen über mehrere Wochen hinweg an Bord des Schiffes.

Gemeinsam mit der NGO Sea Watch haben wir ein Video der Solidarität zu ihrem beschlagnahmten Schiff herausgebracht und dabei das Fehlen von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer angezeigt.

Wie bereits bei dem Schiff Diciotti, haben wir auch im Fall des Schiffes der Küstenwache „Gregoretti“ die ministeriale Verweigerung zur Anlandung der geretteten Migrant*innen angeprangert.

 

 

CARA* von Mineo

2019 war außerdem auch das Jahr, in dem das CARA* von Mineo geschlossen wurde. Wir haben “Il residence degli Aranci” seit der Öffnung im 2011 beobachtet und dabei die systematischen Mängel und die ständige Verletzung der Rechte von Asylsuchenden angeprangert. Von Januar bis Juli 2019, während des Wartens auf die geplante Schließung, wurden wöchentlich dutzende Zwangsumsiedlungen der festgehaltenen Menschen durchgeführt, für die wir gemeinsam mit Rete Antirazzista Catanese rechtliche und soziale Unterstützung geboten haben.

Am Tag der Schließung waren noch hunderte Menschen anwesend, von denen sich viele seit Monaten aus den verschiedensten Gründen illegal in der Struktur befanden. Der Großteil von ihnen wurde dank des Einschreitens von Seiten des Me.d.u. in einem Kloster der lokalen christlichen Gemeinde in der Provinz Catania untergebracht. Die Zuständigen baten dabei um rechtliche Unterstützung von unserer Seite und um unser Eingreifen bei der Übermittlung der Menschen an die örtlichen Behörden, da viele von ihnen besonders schutzbedürftig sind.

 

Campobello di Mazara

Während des gesamten vergangenen Jahres haben wir, gemeinsam mit den Aktivist*innen von NOCAP, das Monitoring der Arbeitsbedingungen von Saisonarbeiter*innen fortgesetzt. Diese Menschen sind gezwungen unter unmenschlichen und schädlichen Bedingungen in den Barackenlagern des Ghettos von Campobello di Mazara (TP) zu leben. In einer Situation, in der sie ausgenutzt werden und komplett sich selbst überlassen während sie den Vorarbeitern ausgeliefert sind, fehlt ihnen die notwendige medizinische Versorgung.

Obwohl wir seit Jahren die Situation tausender ausgebeuteter Hilfsarbeiter*innen bei der Olivenernte anprangern, da sie unterbezahlt sind und nur fiktive Verträge haben, hat selbst die Teilnahme an den fortlaufenden Runden Tischen kaum zu Veränderungen geführt. Das einzige Ergebnis war, dass die Institutionen in diesem Jahr die Vereine aus den Treffen ausgeschlossen haben.

Im Oktober haben wir die Präsenz junger Mädchen, die zur Prostitution gezwungen werden und von dem Netz aus Menschenhändler*innen zu Sklavinnen gemacht werden, angeprangert. Dieses Netz zieht sich von Palermo und Trapani bis aufs Land und hat in der ehemaligen Zementfabrik von Campobello den perfekten Platz für das blühende Geschäft gefunden.

 

Umverteilung und Hotspots

Die Politik der „geschlossenen Häfen“, angeführt von Salvini, hat zu einem Kräftemessen zwischen dem italienischen Innenminister und den Ministern anderer Mitgliedsstaaten zum Thema der Umverteilung der auf dem Meer geretteten Migrant*innen geführt.

Durch die Vorabvereinbarung von Malta, die von der Innenministerin Lamorgese, sowie von Deutschland, Frankreich und Malta unterzeichnet wurde, wird die humanitäre Ermessensklausel aus Artikel 17 der Dubliner Verordnung automatisch und systematisch bei allen Fällen von Seerettung angewandt. Diese Klausel sieht vor, dass ein Mitgliedsstaat die Auswertung des Asylantrags eines Bürgers oder einer Bürgerin aus einem Drittstaat übernehmen kann. Das Fehlen klarer Vorgaben in Bezug auf die Umsetzung zeigt die Willkür dieses Mechanismus, besonders in Bezug auf vorselektive Interviews, die oft an ein Verhör erinnern, das nur dazu dient, den Grad der „Westlichkeit“ des Interviewten zu offenbaren, anstatt zur Bewertung der persönlichen Geschichten der Betroffenen beizutragen. Somit werden die Menschen zu einem Aufenthalt in den Hotspots, von bis zu sechs Monaten, gezwungen.

Im Laufe des Jahres 2019 haben wir weiterhin den Bedingungen, unter denen die Asylsuchenden in den sizilianischen Hotspots von Pozzallo und Messina leben, hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei haben wir vor allem gemeinsam mit Asgi und Action Aid die kritischen Punkte im Zentrum von Messina angeklagt.

Die Advocacy im Jahr 2019

Die Aktivitäten in den Bereichen Monitoring und Recherche, oft auch in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, hat außerdem zur Veröffentlichung mehrerer Berichte, Meldungen und Pressemitteilungen geführt, mit denen wir unsere Aktivität im Advocacy-Bereich fortgesetzt haben.

Im Februar 2019 haben wir den in Zusammenarbeit mit Oxfam Italien entstandenen Bericht „Das Abkommen Italien-Libyen: Menschenrechte – Schachmatt in vier Zügen“ veröffentlicht. Dieser Bericht entstand im Rahmen des Projekts OpenEurope und wurde anschließend als Beitrag zum Arbeitsbereich für Verstöße Italiens zusammengefasst und vom Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte organisiert.

Im Juni 2019 haben wir in Kooperation mit der Antidiskriminierungsstelle „Noureddine Adnane“ und dem palermitanischen Arci* „Porco Rosso“ das Dossier „Die ‚guten’ Sizilianer*innen – Bericht über Gewalt und Diskriminierung auf der Insel“ veröffentlicht. Darin werden die wichtigsten Fälle von Diskriminierung in ganz Sizilien während des ersten Jahres der Regierung Lega/Fünf-Sterne gesammelt.

Im August haben wir in einem Bericht über die Bedingungen der an der tunesisch-libyschen Grenze blockierten Migrant*innen informiert und somit angezeigt, dass Tunesien, hinsichtlich des internationalen Schutzes, nicht als sicheres Land betrachtet werden kann. Ganz im Gegensatz zu dem, was die Bestimmungen des Sicherheitsdekrets in Bezug auf die sogenannten sicheren Länder glauben lassen.

 

Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen übersetzt von Moira-Lou Kröll

 

*SPRAR/SIPROIMI: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum

*CARA: Centro di accoglienza per richiedenti asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende

*Arci – Associazione Ricreativa e Culturale Italiana – Italienischer Verein für kulturelle Freizeitgestaltung