Brief aus Lampedusa

Von Giacomo Sferlazzo, Askavusa – Heute ist einer der schlimmsten Tage, die ich je erlebt habe, die Hoffnung auf ein Lampedusa als Leuchtturm der Solidarität, des Rechts und der Menschlichkeit hat sich sowas von verflüchtigt, dass sie heute nur noch wie ein rhetorischer Traum erscheint, diese Humanität, die uns soviel Hoffnung eingegeben hatte und zu schnell zum Mythos erhoben wurde, war – wie wir zu anderen Gelegenheiten schon gesagt hatten – „klein“ , weil sie nicht begleitet war von politischem und sozialem Gewissen. Heute wurde auf Lampedusa der Plan der Regierung und der lokalen Verwaltung umgesetzt; das, was über Jahre nicht passierte, geschah heute, es kam nämlich zu Zusammenstößen zwischen den Einwohnern von Lampedusa und den Migranten – in diesem Fall Tunesiern.
Schon seit einiger Zeit war Vielen der Zustand von Verkommenheit und Nervosität bewusst, in dem man im Zentrum von Lampedusa lebte, viele hatten es vorausgesagt und es war vorhersehbar, dass es zu einer großen Revolte führen würde, wenn man die jungen Tunesier unter diesen Bedingungen leben lässt, um so mehr, sofern einem bewusst war, dass der Zweck ihres Wartens schließlich die Rückführung nach Tunesien war – und so ist es gekommen. Das Problem ist seit Jahresbeginn immer das gleiche geblieben: die mangelnde Verteilung in andere Orte Italiens, auch das war bekannt, aber alle taten so, als wäre da nichts, alle taten so, als ob das Leben im Zentrum ruhig wäre, wichtig war lediglich, dass man die Migranten nicht auf der Straße sah, dass die Touristen nichts sahen – so wie es heute wichtig ist, dass ihr die Bilder vom Fest der Madonna von Porto Salvo zeigt, das schöne Lampedusa, den Ferienort Lampedusa, was passiert ist, ist schon passé, man muss nicht drüber sprechen – und diese Handlungsweise rührt her von einer mafiösen Mentalität der „omertà“ und des Schweigens – und es ist der Gipfel des Betragens einer Gruppe von Menschen und einer Verwaltung, welche die Illegalität zum eigenen Sinnbild gemacht hat, das Schlimmste, was keine Institution je hat eindämmen können, diese Praxis üblen, gesetzwidrigen Handelns, wird offenbar noch belohnt, der Staat ist wirklich nicht vorhanden auf Lampedusa, seit langer Zeit herrscht ein Klima von Wildwest, jeder macht, was er will, die Gewalttätigen bedrohen und korrumpieren andere und lassen sich selbst korrumpieren. Der einzige Wert, der einen für mich nicht quantifizierbaren Teil der Menschen von Lampedusa noch eint, ist die Sommersaison, was übersetzt die Ausbeutung des Territoriums für Geld bedeutet, aber die Welt und die Geschichte gehen weit darüber hinaus, eine Touristen-Saison zu retten, gehen über die eingeengte Sichtweise von kleinen Unternehmern hinaus. Und diejenigen, die Genossen hätten sein sollen im Kampf gegen die Quälereien und Gewalttätigkeiten, welche die Mächtigen in aller Welt den Massen antun, sind zum Problem geworden, die Feinde, die man umbringen, ertränken, auf den Scheiterhaufen werfen muss, während Berlusconi bei seiner Ankunft auf der Insel von einer gewalttätigen Menge beklatscht wird, welche die nicht mit der Regierungspolitik Einverstandenen daran hindert, gegen diese zu demonstrieren. Heute hingegen werden auch in diesen Stunden meine Freunde, die ich heute mehr denn je meine Genossen nennen möchte, von einer rasenden Menge bedroht, welche jede Richtung verloren hat. „Askavusa gibt es auch für diejenigen, die sich einmischen“. Währenddessen bedankt sich die Lega, und der Bürgermeister, der behauptet, die Tunesier seien alle Delinquenten, trägt eine enorme Verantwortung für das, was passiert, und jeder, der Gewalt anwendet, trägt eine große Verantwortung. Das sind dieselben Personen, die auch Crialese Beifall geklatscht haben, die darin wetteiferten, die Vorführung von Terraferma zu beglückwünschen, es sind diejenigen, die den Sängern applaudieren, wenn sie für die Solidarität singen bei der Kundgebung „O Scià (mein Freund)“, es sind dieselben, die darum wetteifern, die VIPs besuchen zu dürfen, die Baglioni einlädt und dabei üppig verdienen, Baglioni selbst, der von denen finanziert wird, die diese große Katastrophe provoziert haben, der dazu aufruft, freundschaftlich zu sein, um die Bevölkerung für die Themen der Integration zu sensibilisieren, sollte stattdessen diejenigen verdammen, die Gewalt angewandt haben, und nicht diejenigen prämieren, die sich an Schlägereien beteiligt haben, und er sollte sich weigern, mit diesen Leuten zu arbeiten, denn die Lieder, die Worte sind nichts wert, wenn ihnen keine Taten folgen. Die Leute, die heute sagen:“ Werft sie ins Meer, verbrennt sie“, sind alle Verbrecher. Vielleicht haben sie heute die Statue der Madonna von Porto Salvo auf den Schultern getragen. Ich habe nicht viel Glauben, aber das, was während des Festes der Insel-Patronin geschieht – die auch ein Symbol friedlichen Zusammenlebens ist – gibt mir viel zu denken. Diese Menschen, die angeblich das „Tor Europas“ zerschlagen wollen, das Monument von Mimmo Paladino, stehen in Wahrheit den islamischen Extremisten nahe, die Kunstgegenstände im Namen eines religiösen Fanatismus zerstören, was tatsächlich ein Zeichen monströser Ignoranz ist. Was mir Sorgen macht, ist, dass man in der Gewalt das Mittel zur Lösung von Fragen sieht, welche die Politik nicht angehen und lösen wollte oder konnte. Die Tunesier sind gezwungen, gewalttätig zu protestieren, weil sie nicht gehört und unter inhumanen Bedingungen festgehalten wurden, und die unreifen Bewohner von Lampedusa gehen der Regierung in die Falle, und – aufgewiegelt von den Erklärungen des Bürgermeisters – sehen sie in der Gewalt nicht nur ein Ventil zum Dampf-Ablassen, sondern auch einen Weg, einer zu lange unterdrückten Wut Ausdruck zu geben, nicht um damit Ideen oder Aufmerksamkeit auszudrücken (denn in den Köpfen dieser Leute existieren meiner Meinung nach gar keine klaren Ideen), sondern um eine Vorherrschaft, eine Kontrolle über das Territorium zu reklamieren – und auch das ist typisch für mafiöses Handeln. Die Menschheit aufzuteilen ist das, was die Mächtigen immer schon versuchen, indem sie die Ängste und die Ignoranz ausnutzen – und das ist es, was auf Lampedusa geschieht: eine unbesonnene Masse, welche die Lösung des Problems darin sieht, die Tunesier umzubringen und keine Migranten mehr auf die Insel kommen zu lassen. Immer schon wurde gesagt, dass Lampedusa bei der Immigration Erste Hilfe und Aufnahme leisten und nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Migranten aufnehmen könne, aber das ist bei der Regierung nie angekommen, und heute ist es die Regierung, die an erster Stelle Schuld trägt an dem, was passiert, und nach der Regierung kommen alle die Bewohner Lampedusas, die sich in diesen Dreck haben hinein ziehen lassen. Heute haben wir alle verloren – und wir haben viel verloren. Lampedusa, der Ort, den ich am allermeisten liebe, scheint mir heute wie ein Haus, das ich verlassen muss, wie ein Ort ohne weitere Hoffnung, ein Ort, der dem Hass und der Gewalt geweiht ist, an dem der Egoismus und die Ignoranz die Oberhand gewonnen haben – und das kommt von weit her, schon die Tatsache, dass wir eine Verwaltung und einen solchen Bürgermeister haben und diese Vize-Bürgermeisterin von der Lega, besagt viel und ich hoffe, dass die vielen Bewohner Lampedusas, die in der Vergangenheit Solidarität zu zeigen wussten, von dieser Boshaftigkeit nicht überwältigt werden, die nun schon seit langem genährt wurde. Ich hoffe, dass die jungen Tunesier einen besseren Platz zum Leben finden als Lampedusa und Italien überhaupt. Ich will die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht begraben, ich will nicht die Hoffnung auf einen Dialog zwischen den Völkern begraben, zwischen den Schwächsten, den Letzten, ich glaube fest, dass die erste Anstrengung aller Menschen mit einem höheren Gewissen diejenige sein muss, die Debatte zu nähren nicht nur über die Immigration, sondern über alles, was in der Welt geschieht, die Schule und das Wissen wieder ins Zentrums des Lebens aller zu holen, das unmittelbare Wissen, den Dialog sowohl als Instrument als auch als Ziel des Gemeinwohls. Nicht eines Volkes, nicht einer Klasse, sondern der Menschheit. Deshalb verlangen wir, dass die CIEs in Italien abgeschafft werden. Dass ein neues Gesetz über die Immigration und die Integration erlassen werde. Dass die Zivilgesellschaften Europas und Nordafrikas ein direktes Netz aufbauen für Dialog und Kooperation. Dass Bildung und Kultur auf die ersten Stellen der politischen Agenden kommen. Mit ungeheuer viel Leid und Hoffnung.
Giacomo Sferlazzo, ein LampedusanerSamstag, 24. September 2011
(aus dem Italienischen von Alexandra Harloff)