Massensterben im Mittelmeer. Der letzte Anruf vor der Stille: „Wir sind 600 und der Maschinenraum ist voll Wasser.“

Von Salvo Catalano, Meridionnews.it – Die Erste, die das SOS des Fischkutters, der dann gekentert ist, erhalten hat, war die Aktivistin Nawal Soufi. „Aber kurz danach klingelte das Telefon nicht mehr.“ „Ärzte ohne Grenzen“ erzählt von der Rettung: „Menschen, die sich verzweifelt an irgendetwas geklammert haben, um sich zu retten.“ Und klagt an: „Wir sind um 9:00 Uhr gerufen, aber dann zu einem anderen Einsatz beordert worden; es gibt einen großen Mangel an Ressourcen.“

„Hilf uns! Wir sind 600 Menschen auf einem Fischkutter und der Motorraum ist voll Wasser. Ruf die Rettung!“ Es war 9:30 Uhr gestern Morgen, als die marokkanische Aktivistin Nawal Soufi diesen Anruf erhielt. Sie lebt in Catania und ist seit Jahren in der Aufnahme von Migranten, die auf Sizilien ankommen, engagiert. Am anderen Ende des Satellitentelefons war ein Jugendlicher. Einer von hunderten von Menschen, die auf dem Fischkutter aus Eisen, reisten, der einige Stunden später vor der Küste Libyens kentern würde und in diesem schrecklichen Abschnitt des Meeres eine noch nicht genau bekannte Zahl an Menschen zurückließ. Im Moment sind 25 Leichen geborgen und 373 Personen gerettet. Beim Appell fehlten noch 200 Migranten, und heute Morgen wurde die Suche wieder aufgenommen.

Als das Schiff von „Arzte ohne Grenzen“, die Dignity I, am Ort des Massensterbens ankam, haben die Freiwilligen ein Szenario vorgefunden, dass sie als „graunvoll“ bezeichnen: „Menschen, die sich verzweifelt an Rettungsringe geklammert haben, an die Schiffe, an was auch immer sie fanden, um ihr Leben zu retten, mitten unter den Menschen, die ertranken oder schon tot waren“, so erzählt der Koordinator Juan Natias. Die NGO hat den Einsatz mit wertvollen Bildern dokumentiert. Unter den Überlebenden auch einige Kinder. Eins, erst wenige Jahre alt, gerettet zusammen mit seinen Eltern, an Bord des Schiffes der „Ärzte ohne Grenzen“, in den Armen der Mutter, die mit Tränen in den Augen die kleinen Hände küsst. Sie hält es eng an sich, gemeinsam ans Leben geklammert. Das Schreckgespenst des Todes ist bereits weit entfernt.

Das erste Schiff, das den Kahn am späten gestrigen Vormittag 15 Seemeilen vor der libyschen Küste erreichte, war ein Schiff der irischen Marine. Es hatte eine Meldung aus der Operationszentrale der Küstenwache in Rom bekommen. Das Kentern des Fischkutters sei dadurch verursacht worden, dass sich die Menge der Migranten auf eine Seite des Schiffs begeben hätten, als sie die Schiffe sahen, die zu ihrer Rettung kamen. Das erste SOS aber war gegen 9:30 Uhr rausgegangen. Wie so oft, hatte Nawal Soufi diesen Anruf bekommen. Sie hat sich wegen ihres Einsatzes den Beinamen „Engel der Flüchtlinge“ verdient. Aber wichtiger noch: Sie ist Bezugspunkt für tausende Verzweifelte geworden, die durch Mundpropaganda und Informationen in sozialen Netzwerken wissen, dass sie in ihr eine Hilfe haben, die die Rettung in Gang setzt. Als sie den Alarm erhalten hat, hat sie sofort die 1530 angerufen, die Notfallnummer der italienischen Küstenwache; und sie hat den Jugendlichen per SMS mit der gleichen Nummer versorgt. „Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm bis zum Eintreffen der Rettung nahe bleiben würde“, schreibt Nawal. „Kurz darauf hat das Telefon aufgehört zu läuten und der Jugendliche hat mich nicht mehr mit Anrufen „malträtiert“; so geschieht es bei allen Schiffen, die in Gefahr sind.“

In einer Verlautbarung präzisiert „Ärzte ohne Grenzen“, dass sie um 9:00 Uhr einen ersten Anruf vom Koordinationszentrum der Rettung auf See in Rom bekommen haben, dass sie aber dann zur Unterstützung eines anderen Kahns umgeleitet worden sind. „Dieser Einsatz, bei dem 94 Personen beigestanden wurde, ist gegen 12:30 Uhr beendet worden“, stellt die NGO fest. „Die Dignity I hat dann einen weiteren Anruf bekommen, mit dem sie aufgefordert wurden umzukehren und dem ersten Schiff zu helfen. Bei der Ankunft hat ein Schiff der irischen Marine, das als erstes vor Ort eingetroffen war, schon die Rettungsaktion eingeleitet, da das Schiff schon gekentert war. Auch andere Schiffe, auf denen „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet, die Bourbon Argos und die My Phoenix, von Privatleuten mit dem Projekt Moas betrieben, sind vor Ort angekommen. Die Mediziner von „Ärzte ohne Grenzen“ haben 10 Personen behandelt, von denen fünf in ernstem Gesundheitszustand waren und die mit dem Helikopter evakuiert wurden. „Die Tatsache; dass wir zuerst gerufen wurden, diesem Schiff beizustehen und sofort danach zu einer anderen Rettungsaktion, zeigt den großen Mangel an verfügbaren Ressourcen für Rettungsoperationen auf dem Mittelmeer“, kommentiert der Koordinator Matias.

„Heute haben wir aus der Nähe neues, sehr großes Leid gesehen“, fügt Loris De Filippi, Präsident der „Ärzte ohne Grenzen“ hinzu. „Es ist zwingend, dass sich die Rettungsoperationen möglichst nahe an die Abfahrtsplätze begeben. Nur zwei Tage zuvor sind 5 Menschen nach 13 Stunden auf einem Kahn an Austrocknung gestorben, und jetzt diese Tragödie, kaum 15 Seemeilen von Libyen entfernt. Die einzige Lösung, die Kämpfe und das Leiden auf dem Meer zu beenden, besteht darin, legale und sichere Wege zu eröffnen, um diesen Personen, die gezwungen sind, vor Krieg und Armut zu fliehen, Sicherheit zu gewähren, ohne dass sie ihr Leben riskieren müssen.“ Ein Apell, den auch Nawal Soufi wieder und wieder hinausgehen lässt: „Humane Korridore, humane Korridore, humane Korridore!“

Unterdessen ist ein weiterer Kahn mit 381 Migranten aus Syrien, Bangladesch und dem Afrika südlich der Sahara, darunter 55 Frauen und 26 Kinder, nur wenig entfernt von dem Ort des Schiffbruchs gerettet worden: Das Schiff hat 30 Seemeilen vor Libyen Alarm ausgelöst, ungefähr 15 Seemeilen nördlich des Punktes, wo gestern der Fischkutter gekentert ist. Die Fiorillo der Küstenwache, die gestern noch bei der Rettung der Überlebenden des Massensterbens beschäftigt war, hat Kurs auf die Migranten genommen. Bis gestern haben schon 1941 Personen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben verloren.

Aus dem Italienischen von Rainer Gruber