Salinagrande, 26. April 2011

Sofort nach unserer Ankunft vor dem Aufnahmezentrum (C.A.R.A.) in Salinagrande wird uns von einer Schlägerei, die sich am Abend des 24. April zwischen zwei Gruppen von Tunesiern ohne Eingreifen der Ordnungskräfte abspielte, berichtet. Um 6 Uhr morgens des Folgetages (25. April) jedoch werden die Migranten aus ihren Betten geholt und gezwungen sich in Gruppen im Vorhof im Innern des C.A.R.A. aufzustellen (der Platz der sich hinter den Geschäften, weit weg von der Straße befindet).
Sie werden ausgezogen, durchsucht und gezwungen im Regen und in derselben Position für mehrere Stunden auszuharren. In der Zwischenzeit werden auch die Zimmer von ca. zehn weiteren Ordnungskräften inspiziert. Diese wurden von den Migranten als gewaltsam und einschüchternd beschrieben. Außerdem zeigten sie rassistische Verhaltensweisen und brachten den Migranten keinen Respekt entgegen (Unter anderem warfen die Ordnungskräfte eine Kopie des Koran, die ein Migrant bei sich hatte, in die Luft). Nach der Inspizierung und Rückkehr in ihre Zimmer bemerken einige Migranten, dass ihnen Geld und andere persönliche Gegenstände entwendet wurden. Sie platzieren sich daraufhin vor dem Zentrum mit dem Spruchband „KEINE GEWALT, KEIN RASSISMUS“ und drohen nicht wieder in das Innere des Zentrums zurückzukehren. Außerdem verlangen sie lautstark die befristeten Aufenthaltserlaubnisse, auf die sie seit Wochen warten. Am Nachmittag des 26. April werden die ersten befristeten Aufenthaltspapiere (ca. 30) ausgehändigt. Weitere müssten in den nächsten Tagen vergeben werden, wir werden dies überprüfen. Das Ausstellungsdatum der ausgegebenen Aufenthaltsgenehmigungen beläuft sich auf den 11. April 2011 (technische Zeiten?). Den Personen, die eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten, wurde die Identifikationskarte, die sie ausweist und zu den Mahlzeiten im Aufnahmezentrum (C.A.R.A.) berechtigt, entzogen, eine weitere Übernachtung im Zentrum wurde ihnen untersagt. Sie wurden hingegen aufgefordert das Gelände zu verlassen. Allerdings waren sie mit keinerlei Reisedokument und/oder Fahrkarten, das ihnen die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ermöglicht hätte, ausgestattet. Abends wurde ihnen dann doch eine weitere Übernachtung genehmigt. Inzwischen hoffen wir auf die Genehmigung vom Bahnhof in Trapani und gegen 16.30 Uhr vom Bahnhof in Palermo aufbrechen zu können. In der Turnhalle sind immer noch zahlreiche Migranten eingesperrt (ungefähr 90 wurde uns mitgeteilt). Während wir vor dem C.A.R.A. stehen, werden wir Zeuge eines Fluchtversuchs: Einer von ihnen versucht auf dem Weg zur Krankenstation in Begleitung von Ordnungskräften, mit der Ausrede, es würde ihm nicht gut gehen, zu fliehen. Er wird sofort von ca. zehn Polizisten verfolgt, wenige Minuten später wieder eingefangen und unter Pfiffen und Protesten der anderen, die nach draußen gekommen sind, und die Szene verfolgt haben, zum Zentrum zurückgebracht. Von den Migranten erfahren wir, dass Elektroschocks eingesetzt wurden, um den Flüchtigen aufzuhalten. Sein blutüberströmtes Gesicht spricht von einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Im Hinblick auf die Deportationen wird vor unseren Augen ein Bus mit Migranten beladen, während ein vorheriger Bus morgens sehr früh, ca. gegen 5 Uhr das Gelände verlässt. Die Migranten werden einzeln von zwei Polizisten aufgefordert, das Geschäft, in dem sie sich zu der Zeit befinden, zu verlassen. Sie werden zum Bus begleitet. In diesem befinden sich zahlreiche Ordnungskräfte. Um nicht gestört zu werden, ziehen sie die Gardinen zu und verhindern, dass wir verfolgen können, was sich im Innern des Busses abspielt. Als der Bus mit ungefähr 30 Personen beladen ist, werden die Tore geöffnet. Der Bus verlässt in Begleitung von weiteren Wagen das Gelände und fährt sofort zur Landebahn des Flughafens. Die Fluggesellschaft „Mistral Air“, Eigentum der Italienischen Post, soll die Migranten um 20 Uhr nach Tunesien bringen. Vor dem Aufnahmezentrum (C.A.R.A.) befinden sich sehr viele Personen, die den Kontakt zu uns suchen. Manche von ihnen sprechen gut italienisch und fungieren als Mediatoren. Alle wollen etwas fragen, wollen wissen, ob sie mit der Aufenthaltserlaubnis, die sie bekommen, zu ihren Verwandten nach Frankreich und Belgien können, ob sie Anspruch auf ein Zugticket haben, das ihnen zumindest ermöglicht, Palermo zu erreichen. Oder sie wollen einfach mit uns reden, um uns über ihre Unannehmlichkeiten und schlechten Behandlungen, die sie ertragen, zu informieren. Sie teilen uns beispielsweise mit, dass das Essen nicht reiche, von äußerst schlechter Qualität und womöglich mit Beruhigungsmitteln angereichert sei, dass das Verhalten der Ordnungskräfte einschüchtere und nur dazu führe, Hass und Wut unter ihnen zu erzeugen. Trotz allem versuchen sie ruhig zu bleiben, sie wollen so schnell wie möglich diesen NICHT-Ort verlassen. Sie bleiben ruhig, wenn sie ausgezogen und ihrer Privatsphäre entledigt werden. Sie bleiben ruhig, wenn ihre Religion verspottet wird, sie bleiben ebenso hinsichtlich der Deportationen ruhig, aber für wie lange noch?presidio chinisia