Zehn Tage auf Lampedusa

Um die allgemeine Situation auf Lampedusa besser begreifen zu können, waren wir vor und nach der Konferenz der Lampedusa Charta auf der Insel. Es war interessant zu beobachten, wie sich die Situation im Laufe von zwei Wochen, in denen von „Mare Nostrum“ gerettete Migranten ankamen, bereits änderte. Tatsächlich war noch vor einigen Wochen das Erstaufnahme-Zentrum von Lampedusa nicht in Betrieb und keiner wusste etwas über dessen Zukunft. Was nun folgt ist die ‚Momentaufnahme‘, die wir während unseres kurzen Aufenthaltes auf der Insel machten. Dazu haben wir versucht mit zahlreichen Bewohnern Lampedusas, mit Privatpersonen aber auch mit den Beauftragten der Institutionen ins Gespräch zu kommen.
DAS ALLGEMEINE BEFINDEN
Wir konnten den Gesprächen mit mehreren Lampedusanern über verschiedene Themen folgende Empfindungen entnehmen:
Wenn die Einheimischen über Einwanderer sprechen gebrauchen sie häufig die Bezeichnung „clandestini“ (Illegale), auch dann wenn sie keine negative Bezeichnung beabsichtigen. Tatsächlich wird clandestini von vielen als neutraler Ausdruck verwendet, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Mario: „Ich bin seit jeher auf der Seite der clandestini. Auf Lampedusa hat sich neben der Fischerei und dem Tourismus ein neuer Sektor angesiedelt, der des Todes.“
Maria: „Die clandestini werden besser behandelt als wir: beim ärztlichen Notdienst werden zuerst sie versorgt und dann wir.“
Außerdem konnten wir in den Gesprächen feststellen, wie präsent die Erinnerung an 2011 noch immer ist. Einige erzählen uns wie sich die Insel damals von einem Tag auf den anderen ins Negative verwandelte; wie die Situation unkontrollierbar wurde und dies auch viele Veränderungen im täglichen Leben mit sich brachte.

Mimmo: „Die Tür meines Hauses war vor 2011 nie abgeschlossen. SEITHER schließen alle auf der Insel ihre Haustüren ab.“ Die Gründe dafür waren, so Mimmo, die inhumanen Bedingungen unter denen die Migranten damals „aufgenommen“ wurden. Ihnen wurden nicht einmal die grundlegendsten Rechte garantiert. Das führte dazu, dass sie in die Wohnhäuser kamen, im Ort kampierten und oft dem Alkohol verfielen, was wiederum in Prügeleien endete. Die Bevölkerung hatte den Eindruck, dass man nichts machen konnte, um den Verfall einzuschränken. „Die Carabinieri (Ordnungshüter) haben die Tunesier nicht angerührt, aus Angst vor Videos für die sie Ärger bekommen hätten und folglich ihren Arbeitsplatz hätten verlieren können. Sie haben nichts gemacht, selbst wenn sie von Migranten angespuckt wurden, haben sie nicht reagiert. Sie haben nicht reagiert“, berichtet eine ältere Frau.

Wir hatten auch den Eindruck, dass bei den Einwohnern das Gefühl verbreitet ist, Einwanderer würden beim Zugang zu ärztlicher Behandlung privilegiert behandelt. So hat man uns erzählt dass, „clandestini beim ärztlichen Notdienst vorgelassen werden“ und dass viele Einwohner wegen dieser Misswirtschaft und wegen des Gestankes es inzwischen vermeiden sich an die medizinische Sprechstunde zu wenden. Einige finden mittlerweile, dass zwei separate ärztliche Einrichtungen, eine für Italiener und eine für Migranten, die Lösung bringe.
Diesbezüglich sagt uns eine Frau, „Das ist keine Frage von Rassismus. Das hat nichts mit Rassismus zu tun. Ich kann meinen Sohn nicht in eine ärztliche Einrichtung bringen, in der man keine Luft bekommt.“ Wir ersuchen sie uns von dem Zustand der medizinischen Versorgung vor 2008 zu erzählen und sie gesteht, dass es schon immer so war und dass die Missstände folglich nicht mit dem Einwanderungsproblem zusammenhängen.

Es scheint als sei das Gefühl der Vernachlässigung und der Bevorzugung von Migranten verknüpft mit den diversen infrastrukturellen Mängeln auf der Insel. Das primäre Problem ist das Fehlen eines Krankenhauses und die Unkosten, nicht nur wirtschaftlicher Natur, die dies mit sich bringt – die Kosten für eine Entbindung schwanken, wie man uns mitteilt, zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Die Einsturzgefahr der Volksschule ist ein weiteres vordergründiges Problem; Kinder die sie besuchen sind der Lebensgefahr ausgesetzt.

Überdies haben wir wahrgenommen, dass die Insulaner unter der Aufmerksamkeit leiden, die sich von außen auf die Insel richtet, eine Aufmerksamkeit die sich zur Gänze dem Flüchtlingsproblem zuwendet und die sich nicht für die allgemeinen Unbequemlichkeiten interessiert, mit denen die Bewohner Lampedusas Tag für Tag leben müssen. Dazu zählen auch gravierende Mängel bei der Grundversorgung, insbesondere im Bereich der Bildung und im Gesundheitswesen. Diese Aufmerksamkeit hat eine negative Auswirkung auf das Image der Insel; so schaden „sbarchi“ (die Ankünfte der Flüchtlingsboote) und „emergenza immigrazione“ (Notstand Einwanderung) dem Tourismus.

Wir konnten zudem die massive Präsenz von Militär und Ordnungskräften beobachten, deren tatsächlichen Nutzen viele Einwohner nicht nachvollziehen können. Zahlreiche Befragte sprechen von vielen Soldaten und Polizisten in den Cafés, zu allen Tageszeiten. Dabei fällt ein Satz immer wieder: wieso wird auf der einen Seite viel Geld für Nichts ausgegeben, während auf der anderen Seite durch ihre mittlerweile langjährige wirkungsvolle Anwesenheit die Freiheit auf der Insel eingeschränkt wird. In den Gesprächen wird allerdings auch deutlich, dass Händler und Gastwirte den militärischen Aufmarsch und die damit verbundenen benötigten wirtschaftlichen Dienstleistungen begrüßen.

TREFFEN MIT DER MILITÄR MARINE im Camp des Stützpunktes der Operation „Mare Nostrum“, auf Lampedusa.
Unser Gespräch mit einem der Soldaten konzentrierte sich hauptsächlich auf die Operation „Mare Nostrum“. Er beschreibt die Aufgabe der Marine wie folgt: „Wir retten Leben und führen Krieg gegen die Schleuser … Der Handel hat sich verändert: zuerst die Zigaretten, dann die Waffen und jetzt die „Menschen“. Das Wichtigste für uns ist Leben zu retten. „Mare Nostrum“ ist eine militärische Operation, die bereits 8.000 Migranten im Mittelmeer gerettet hat.“
Zurzeit sind im Kanal von Sizilien sieben Kriegsschiffe im Einsatz.
Der Soldat widerlegt unsere Behauptung, wonach die Präsenz bewaffneter Kräfte auf Lampedusa zugenommen haben soll und erläutert, dass zur Zeit, zur logistischen Unterstützung der Operation, bloß zwölf Marine Soldaten vor Ort seien. Bezüglich der Dauer der Mission „Mare Nostrum“ kann er uns nur sagen, dass sie im Moment bis Ende Februar garantiert ist und dass man auf eine Bestätigung von Seiten der italienischen Regierung wartet. Diese versucht ein Übereinkommen zur Finanzierung mit der NATO, den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union zu erzielen, weil, wie unser Ansprechpartner der italienischen Marine annimmt, die Operation sehr kostspielig sei. Außerdem bestätigt er, dass mit Unterstützung einer der oben genannten Organisationen bald gut 20 Kriegsschiffe im Kanal von Sizilien im Einsatz sein könnten.
Auf die Frage, wieso gerade Kriegsschiffe zur Rettung von Migranten einsetzt werden, antwortet er, dass nur Schiffe dieser Art die sichere Rettung einer großen Anzahl von Personen garantieren können. Sie verfügen über genügend vorrätiges Wasser und Lebensmittel, über eine Besatzung, die es gewohnt ist bei jeglicher Witterungslage auf dem Meer zu bleiben, und über eine Ausstattung für medizinische Notfälle; zu dieser gehören ein Operationsaal und ein gynäkologische Dienst. Auf der anderen Seite bietet ein Kriegsschiff auch die Möglichkeit sofort nach der Rettung gegen das Verbrechen des Menschenhandels vorzugehen. In diesem Zusammenhang gibt unser Ansprechpartner auf die die Frage nach dem Identifikationsverfahren an Bord zunächst an, darüber nicht auf dem Laufenden zu sein. Danach erklärt er uns aber die Notwendigkeit der Identifizierung, um eventuelle Schleuser und andere Kriminelle oder verstörte Personen, die die Unversehrtheit der Besatzung gefährden könnten, zu ermitteln. Er bekräftigt welch große Verantwortung es sei, Menschen an Bord eines Schiffes zu lassen, das für den Kriegsfall ausgerüstet ist.
Am Ende unseres Gesprächs spricht er mit uns über den großen Verzicht, den Soldaten auf Mission vollbringen: weit weg von den Liebsten, ohne Freizeit, wenig Freigänge. Die ihre sei eine Mission, kein Job, sagt er und weiter, es habe alles seine Nachteile. Zuletzt meint er: „Ich habe alle Missionen der letzten Jahre mitgemacht: Afghanistan, Libanon, den Balkan … und Lampedusa“.

TREFFEN MIT DER KÜSTENWACHE
Die Aussage des Oberkommandanten Giuseppe Cannarile über der Verpflichtung der Küstenwache in Bezug auf die Ankünfte der Migranten über den Seeweg ist klar und bündig: „Unser Ziel ist es Leben zu retten … Erfolg ist die Unversehrtheit der Schiffbrüchigen. Wer und wie ist unwichtig, das ist das oberste Ziel.“ In Bezug auf die Operation „Mare Nostrum“ bekräftigt er, dass seit ihrem Beginn 8.000 Menschen gerettet wurden.
Er versucht über die Möglichkeiten dieser Operation zu sprechen und um Missverständnisse zu vermeiden, unterstreicht der Oberkommandant, dass seine institutionelle Rolle eine zeitliche Kontinuität vorschreibt, unabhängig von den Veränderungen der politischen Bewegungen. Übersetzt: Er fällt kein Urteil über die Operation „Mare Nostrum“, trotzdem hält er die Fragezeichen bezüglich der immensen Kosten der Rettungsvorgänge für berechtigt. Hierzu bestätigt er, dass die Rettungsaktionen der Küstenwache folgendes vorsehen: die Lokalisierung der in Seenot geratenen Boote, die Ermittlung des nächst näheren Schiffes und möglicherweise die sofortigen Entsendung der Patrouillenboote der Küstenwache. „Es interessiert uns nicht wieso sich ein Boot auf hoher See in Seenot befindet. Unser Ziel ist es die Personen zu retten und sie in den nächst gelegenen sicheren Hafen zu begleiten.“ Das ist die Antwort auf unsere Ratlosigkeit über die Rettungsaktionen ausgeführt von den Militärschiffen, die neben retten auch identifizieren und nach eventuellen Schleusern suchen.
Der Kommandant bekräftigt, dass die Funktion der Küstenwache auch nach Beginn der Operation „Mare Nostrum“ dieselbe geblieben sei, wenn auch klarerweise die Hilferufe der Migranten und die Einsätze der Küstenwache weniger geworden seien. Es bleibt momentan bei der maximalen Auslastung („auch wenn das Maximum nie genug ist“) mit sechs hochseetauglichen Patrouillenbooten und einer Crew von ungefähr 80 Einheiten auf Lampedusa. Der Grund für diese hohe Auslastung hängt mit der hohen Zahl von Migranten zusammen, die zwischen November und Februar auf hoher See gerettet worden sind. Diese sagen für die kommenden Monate, in denen sich die Wetterbedingungen verbessern werden, einen immensen Flüchtlingsstrom voraus.
Über das Erstaufnahme-Zentrum sagt uns der Oberkommandant, dass es nicht geschlossen, sondern einfach nur nicht in Betrieb sei. Sollten erneut Migranten auf die Insel gebracht werden, wäre man dort aber bereit sie aufzunehmen.

TREFFEN MIT DEM PFARRER VON LAMPEDUSA
Unser Gespräch mit dem Pfarrer der einzigen Kirche auf der Insel beginnt mit der Erinnerung an den 3. Oktober 2013. Auf der Insel habe man die fehlende Möglichkeit zur Verarbeitung des kollektiven Traumas dieser Tragödie, die sich nur wenige Meter vor der Küste ereignet hat, gespürt. Durch das Fehlen einer Gedenkfeier gab es keine Möglichkeit, um die kollektive Trauer zu verarbeiten, mit der man in all den Tagen leben musste. Es wurde über nichts anderes gesprochen, als über die hunderte Leichen, abgelegt am Flughafen und man wusste nicht, wie man den Kindern erklären sollte was gerade passiert war.
Er erzählt uns wie schwer es war die kühlen und distanzierten Verladungsaktionen und den Transport der Leichen mit anzusehen, denen man keinen letzten Gruß erteilen konnte. Dann sprach er über das kürzlich eröffnete Zentrum der Caritas, das sich zum Ziel setzte ein gemeinsamer Treffpunkt für Insulaner und Migranten zu werden. Dabei hob der Pfarrer hervor, dass es auf Lampedusa, ausgenommen die Sommermonate, kein soziales Leben gebe und wie schwer es deshalb sei, Wege des aktiven Zusammenlebens zu schaffen.
Was die Militarisierung der Insel anbelangt, die Medien sprechen zwar von „Frontex“ und „Mare Nostrum“ sagt er, aber auf der Insel sei die Präsenz jener Operationen und deren Auswirkungen nicht sichtbar.
Am Ende unseres Gesprächs spricht der Pfarrer die Entscheidungen bezüglich des Erstaufnahme-Zentrums in der Imbriacola Gasse an. Er könne nichts darüber sagen, auch nicht über die Renovierungsarbeiten, die nicht voranzuschreiten scheinen. Es gäbe in der Führung des Zentrums ein politisches Vakuum.

TREFFEN MIT DEM STELLVERTRETENDEN BÜRGERMEISTER VON LAMPEDUSA
Zu Beginnen des Gespräches fragen wir den stellvertretenden Bürgermeister wie die BürgerInnen seiner Meinung nach die Militarisierung der Insel wahrnehmen. Er sagt uns, dass die massive Präsenz von Militär und Ordnungskräften nach dem 3. Oktober 2013 nur geringfügig als Belästigung wahrgenommen werde, da die Furcht, dass sich ein ähnliches Ereignis erneut abspielen könnte noch groß sei. Man wolle nicht riskieren, unvorbereitet darauf zu sein. Deshalb werde die Präsenz von beauftragten Funktionären, die im Notfall einschreiten, jetzt zunehmend begrüßt. Auf der anderen Seite wird die massive Militarisierung als Nachteil gesehen, sobald sie sich negativ auf den Tourismus auswirkt. Diesbezüglich erwähnt der stellvertretende Bürgermeister auch die mediale Instrumentalisierung der Einwanderung. Diese werde ihm zufolge regelmäßig verstärkt; die Einwanderung auf Lampedusa macht Schlagzeilen. Journalisten machen davon häufig während der Hochsaison Gebrauch, in dem sie „Alarm schlagen und somit das Tourismusunternehmen schädigen.“
Als wir auch ihn nach Neuigkeiten zum Erstaufnahme-Zentrum ‚Imbriacola Gasse‘ befragen sagt er uns, dass er keine offiziellen Neuigkeiten gäbe. Das einzige, was er uns zur Frage seiner Schließung sagen könne,
ist, dass ihm weder ein Beschluss des Ministeriums vorliege, noch dass die Schließung amtlich bestätigt wurde. Die Kommunalverwaltung wird vom Ministerium in keiner Weise über die Zukunft des Erstaufnahme-Zentrums informiert.

Die Redaktion von Borderline Sizilien

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner