Tote: das Meer kann nicht mehr

Die Toten sind dermaßen viele, dass das Meer sie, entlang der libyschen Küsten, wieder ausspuckt. An dem Ort an dem viele aufbrechen,
auf der Suche nach einem neuen Leben, das sowohl den Frauen, als auch
den Männern jeden Alters bisher vorenthalten wurde. Weitere Tote wurden
in den letzten Wochen von den humanitären Schiffen wie Acquarius und Dignity
von Ärzte ohne Grenzen geborgen. Die letzten in dieser Chronologie,
sind die Leichen von 22 jungen Frauen, in der letzten Woche in Trapani
an Land gebracht. Frauen und Minderjährige sind die ersten Opfer der
Überfahrt von Libyen nach Italien, denn sie befinden sich im Inneren der
Boote.

Keiner spricht mehr über sie, weder das Fernsehen, noch die
Zeitungen. Diese sind zu sehr darauf konzentriert die festgenommenen,
mutmaßlichen Schlepper zu zählen. Auch diese werden immer jünger. Seit
kurzem sind auch Frauen unter ihnen.

In einer Woche sind in Trapani rund 1000 Personen angekommen. Sie
haben das Aufnahmesystem auf eine harte Probe gestellt. Besonders
schwierig war die Situation der Minderjährigen und der Erwachsenen,
welche sich kooperationswillig zu einer Umsiedlung zeigten, für welche
sich keine Plätze mehr fanden. Dies lässt die Zahl der Tage im Hotspot
von Milo mehr werden. Dort werden innerhalb kurzer Zeit alle Personen
identifiziert und fotografiert. Wegen der großen Konfusion gelingt
einigen dennoch die Flucht, während andere vor die Tür gesetzt und
zurückgeschickt werden.

So hat es sich auch im Anschluss an die letzte Ankunft abgespielt.
Die Präsenz vieler Ägypter hat das Getriebe des Systems in Trapani
zusammenbrechen lassen. Die zahlreichen, mutmaßlichen Minderjährigen
wurden während der kurzen Fahrt vom Hafen zum Hotspot zu Erwachsenen
umdeklariert. Und die erwachsenen Ägypter wurden mit einem Flug von
Palermo zurück geschickt. Ob sich auch ein Blinder unter ihnen befand,
überprüfen wir noch.

In der letzten Woche kamen sieben Tunesier an den Stränden von
Favignana an. Ihr kleines Boot wurde von den Marinekontrollen nicht
gesichtet. Die Männer wurden von Palermo mit dem Flugzeug wieder in die
Heimat zurückgeschickt. Die Situation wird immer schlimmer, das zeigt
sogar die Art der Rettungsmanöver und die der Ankünfte in den
sizilianischen Häfen: das Hauptinteresse bleibt, mutmaßliche Schlepper
(die Sündenböcke der illegalen Einwanderung) zu identifizieren, dass
dabei Familien, die zusammen aufgebrochen sind, zerstückelt werden, wird
vernachlässigt. Immer öfter suchen Frauen ihre Männer und Brüder, oder
Schwestern. Das sorgt bei den bereits sehr erschöpften Personen für
große Probleme, psychologischer Natur. Ein Fall von vielen: in der
letzten Woche hat eine Sechsjährige in Palermo ihren Vater gesucht,
dieser war nach Siracusa gebracht worden. Auch Nigerianern, die nach
Lampedusa gekommen sind, wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie
wurden in das Identifikations- und Abschiebezentrum von Pian del Lago
gebracht. Dann wurden sie zusammen mit 22 weiteren Personen aus
verschiedensten Zentren Italiens, nach Nigeria abgeschoben. Der Flug
stand in Verbindung mit der Europäischen Union und wurde von Frontex
koordiniert.

Auf der Fähre von Lampedusa nach Porto Empedocle wurden ein
Marokkaner und ein Libyer zurückgewiesen. Wie es bereits vor einigen
Monaten zu Zeiten der Abschiebungen der Fall war, wurden sie am Bahnhof
zurückgelassen. Es besteht der Eindruck, dass es alle diese
Ausnahmefälle gibt, um den fehlenden Aufnahmeplätzen entgegen zu wirken.

Im Hotspot von Lampedusa, wo mittlerweile über 25 Frontexeinheiten
gegenüber zwei der humanitären Organisationen stationiert sind, wie im
Hub von Villa Sikania werden weiterhin Überbelegung und Vermischung
registriert zusammen mit mannigfachen Fällen von Ausübung von
psychischem Zwang bei der Abgabe der Fingerabdrücke.

Keiner will die Toten sehen, keiner will sie auf dem Gewissen haben, auch nicht das Meer.

Alberto Biondo

Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner