Lampedusa als Grenze. Rechtswidrige Praktiken, Gleichgültigkeit und Widerstand

Auf Lampedusa, Grenzübergang und Vorhölle mitten im Mittelmeer, finden ununterbrochen Anlandungen von Migrant*innen statt. Im dortigen Hotspot, in dem in den letzten Tagen bis zu 300 Menschen festgehalten wurden, ereignen sich anhaltende Menschenrechtsverletzungen, informelle europäische Relocationverfahren und Gewalt, die von der weit verbreiteten Gleichgültigkeit verursacht wird – alles unter dem Schweigen der Medien. Dennoch ist der Widerstand gegen die Kriminalisierung von Migrant*innen von Seiten der Vereine und Organisationen die Grundlage für den Widerstand, der täglich an der Grenze und in deren weiterer Ferne geleistet wird.

Foto von Silvia Di Meo

Die Grenze der Gleichgültigkeit und des Widerstands

Die Geschichte von Lampedusa, die zweihundert Kilometer nördlich, zunächst in Sizilien, dann in Italien und schließlich in Europa ankommt, wird häufig durch unscharfe Filter analysiert, welche nur einige wenige Elemente durchscheinen lassen: Das Beeinträchtigen der einen oder der anderen Seite, die ewige Gegenüberstellung von zwei Fraktionen: die, die Menschen willkommen heißen wollen und die, die es nicht wollen. Aber ist das wirklich die wahre Geschichte? Mit einem einzigen Titel landete Lampedusa anlässlich der letzten Europawahlen in allen Zeitungen: die Lega boomt, Salvinis Partei gewinnt zweifellos auf der Insel der Gastfreundschaft. Aber die Wahrheit ist viel komplexer – wenn wir überhaupt von Wahrheit sprechen können: Ein Feindseligkeitsgefühl hat es hier immer gegeben. Es ist jedoch zwischen den Zeilen von tausenden Artikeln oder Reportagen dieser Jahre verborgen geblieben, die stets bereit waren, Nachrichten zu den Anlandungen zu verbreiten und generell mit einer starken medialen Aufmerksamkeit die Menschen auf Lampedusa verärgern: Es ist immer eine einzige Stimme, die aus den Grenzen der Insel ausbricht.

Ein grundlegendes Element fehlt in der Tat auf dem Bild, das für diejenigen gemalt wird, die weit von dieser kleinen Insel mitten im Mittelmeer entfernt sind: die Gleichgültigkeit. Ohne sie kritisch zu hinterfragen, wurde die Wahlbeteiligung zu einer niedrigen Zahl kleingeredet: Nur 26% aller Einwohner*innen von Lampedusa nahmen an den Europawahlen teil. Der Boom der Stimmen, die an die Lega gingen, ist darin komprimiert. Es ist eine Gleichgültigkeit, die tatsächlich weit verbreitet ist und wie eine Gummiwand zwischen der einen und der anderen Seite funktioniert, auf der alles abzuprallen, um dann wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren scheint, jede*r auf seine Seite. Es handelt sich dabei um eine transversale Gleichgültigkeit, die in letzter Zeit weder entstanden noch verstärkt wurde, sondern auch schon vorher existierte, selbst als Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin der Gastfreundschaft im Amt war. Wer sich auf Lampedusa als Einwohner*in oder als „Ausländer*in“ befindet, weil er*sie sich dafür entschieden hat, dort zu leben, erzählt, dass sich in diesem Sinne wenig oder nichts geändert hat: Lampedusa ist nicht als Anhängerin der Lega erwacht, war aber auch nicht immer solidarisch. Plötzlich befand sie sich im Rampenlicht, sie wurde zur Brücke zwischen Afrika und Europa und wurde aufgerufen, alle ankommenden Menschen willkommen zu heißen.

Trotz des Vorhangs der Gleichgültigkeit, der einen Teil von Lampedusa umgibt, gibt es dort ein Widerstands- und Unterstützungsnetzwerk für Migrant*innen: Das Forum Lampedusa Solidale bringt verschiedene Gemeinschaften, von Mediterranean Hope über die Pfarrgemeinde Don Carmelo La Piana bis hin zum Kulturkollektiv Askavusa, zusammen. Auch sie befinden sich zwischen den Zeilen der Erzählung. Sie sind mitten drin und leben durch ihre Aktivitäten all die inneren Widersprüche, die vermeintlich unerwarteten Spannungen, weil sie in den Untiefen der Seelen wahrgenommen und gegenwärtig sind, inwieweit Lampedusa konstant eine jederzeit einsatzbereite Zündschnur ist.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Decken für die Anlandungen und die Überwachung der Situation der Hotspots, die Durchführung von Veranstaltungen und kulturellen Initiativen für die Bevölkerung und für die Jugendlichen, auch nur die physische und ethische Präsenz bei Protesten oder in heiklen Momenten der Feindseligkeit, die Besetzungen des Kirchplatzes um die Öffnung der Häfen zu fordern, die Aufnahmepraktiken, die Beziehungen zu den Besatzungen der Schiffe der NGOs: Als kleine Garantie des Widerstands versuchen sie durch Aktion und Reflexion Treffpunkte, Brücken, Vermittlungen und die Möglichkeit des Zusammenlebens unter den verschiedenen Einwohner*innen der Insel zu schaffen.

 

Die kritische Situation des Hotspots

Der Hotspot von Lampedusa, in den neu angekommene Migrant*innen unmittelbar nach der Anlandung umgesiedelt werden, war in den letzten Tagen überfüllt und unüberschaubar: Die Zahl der Migrant*innen, die im Zentrum von Contrada Imbriacola festgehalten wurden, stieg in den letzten Tagen bis auf 300, fast drei Mal so viel, wie die Struktur eigentlich aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen sind nämlich die Anlandungen und Ankünfte von Migrant*innen ununterbrochen fortgesetzt worden: Die des Schiffes Ocean Viking, bei der wir mit einem kleinen Begrüßungskomitee anwesend waren, und die der kleinen Boote, die auf eigene Faust an den Küsten von Lampedusa ankamen. Innerhalb von zwanzig Tagen zählten die Ankünfte bereits Hunderte von Menschen. Für einen bestimmten Zeitraum weilten diese im Hotspot, wo sie sich, um identifiziert werden zu können, willkürlichen Freiheitseinschränkungen unterwarfen.

Die Einschränkung der persönlichen Freiheit, welche den eingesperrten Migrant*innen das förmliche Verlassen des Zentrum untersagt, verleiht dem Aufenthalt in der Struktur den Charakter einer echten Inhaftierung: Das Tor des Zentrums ist für den Durchgang von Migrant*innen verschlossen („Nein, von hier geht man nicht hinaus“, lautet die Aussage, die oft an Migrant*innen gerichtet ist, die um Bewegungsfreiheit bitten). Der einzige Ausweg ist durch eine Öffnung des Netzes, die durch Migrant*innen angefertigt wurde. Es handelt sich um eine Situation, die allen bekannt, von allen akzeptiert und bei allen eingebürgert ist: Diese Durchgänge ermöglichen es Migrant*innen sich in Richtung des bewohnten Zentrums der Insel zu bewegen und hier mit denen in der Umgebung tätigen Vereine in Kontakt zu treten.

Die Angst vor ständigem Druck und Drohungen, die offensichtliche Militarisierung des Zentrums und die ständige Anwesenheit der Polizeikräfte dämpfen leider oft den Willen von Migrant*innen, ihre Rechte mit Nachdruck einzufordern.

Der Hotspot der Contrada Imbriacola auf Lampedusa – Foto von Silvia Di Meo

Der Zugang rechtlich internationalen Schutz zu beantragen ist begrenzt: Insbesondere wird ein Vorauswahlverfahren durchgeführt, um „Wirtschaftsmigrant*innen“ von „Asylsuchende“ zu unterscheiden. Dies geschieht durch eine teilweise willkürliche Einschätzung, die häufig ausschließlich auf dem Herkunftsland der Migrant*innen zurückzuführen ist. Dabei wird die persönliche Lebensgeschichte, die die möglichen Voraussetzungen für einen Asylantrag aufzeigen würde, nicht berücksichtigt. Dies betrifft vor allem Migrant*innen aus Nordafrika und insbesondere jene, die aus Tunesien kommen. Diese sind fast immer vom Verfahren zur Beantragung von internationalem Schutz ausgeschlossen und werden zur Ausweisung in die Haftzentren (CPR) abgeschoben. Bürger*innen, die aus Ländern kommen, die als „sicher“ gelten – und zu denen, wie wir gezeigt haben, Tunesien nicht dazugehören sollte http://localhost:81/newbordtunisia-porto-sicuro-storie-di-violenze-e-deportazioni-dalla-frontiera-tunisino-libica/ – wird daher auf Grundlage einer Hierarchie von Migrant*innenkategorien auf völlig informelle Art und Weise, ohne spezifische Beurteilung des jeweiligen Falles und häufig trotz des ausdrücklichen Willens, Schutz zu beantragen, ein Rechtsstatus zugeteilt. Diese Regelwidrigkeiten sind dadurch möglich, dass nicht einmal eindeutige rechtliche Informationen vorliegen, die die Rechtsstellung einer Person auf der Durchreise betreffen. „Pourquoi ils nous informent pas pour qu’on sache?“ (dt. Warum informieren sie uns nicht, sodass wir Bescheid wissen?), wurden wir mehrmals von Migrant*innen außerhalb der Hotspots gefragt. Auch die materiellen Empfangsbedingungen lassen zu wünschen übrig: Die Überfüllung der Hotspots, mit einer weit über die maximale Kapazität hinausgehenden Anzahl von Menschen, führt zu unangenehmen Aufenthaltsbedingungen.

Die Unmöglichkeit für die Vereine der Gegend Zugang zu dem Zentrum des Hotspots zu erhalten, erschwert die Monitoringtätigkeit, den rechtlichen und sozialen Beistand und das Eingreifen in die Umsiedlungsverfahren. Die neuen informellen Praktiken scheinen unsichtbare Abläufe zu konfigurieren, und die Kontaktmöglichkeiten von Migrant*innen mit externen Organisationen zu verringern, um sicherzustellen, dass interne Dynamiken in einem dunklen Bereich mit schwierigem Zugang bleiben. Wie der ASGI*-Schulungskurs „Lampedusa. Operare in frontiera“ („Lampedusa. An der Grenze tätig sein“), der vom 13. bis 15. September stattgefunden hat, betonte, hat das betreffende Zentrum im Laufe der Zeit zahlreiche heikle Problematiken aufgezeigt, die durch die Anwendung des Dekrets 113/2018 verschärft wurden. Mit diesem Dekret hat die Regierung die kritischen Punkte gefestigt, neue Problematiken eingeführt und es den betreffenden Zentren ermöglicht, eine immer größere Ähnlichkeit mit Haftanstalten anzunehmen. Nicht nur: Die europäische Umsiedlungsverfahren verschärfen die rechtliche Ausnahmesituation, in die Migrant*innen hinströmen.

 

Die Mehrdeutigkeit der Umsiedlungsverfahren und der Malta-Abkommen

Auf der einen Seite beglückwünscht die Zivilgesellschaft die Diskontinuität, die von der neuen Regierung gezeigt wird, und die – endlich ohne Mediengewirr und diplomatischen Ringens – am 15. September der Anlandung der Ocean Viking zugestimmt hat. Auf der anderen Seite bleibt die Aufmerksamkeit auf das Geschehen nach den Anlandungen, und auf jene Menschen, die zunächst im Meer gefangen sind und dann in einem Hotspot eingesperrt werden, wie ein diffuser Nebel mit unscharfen Konturen, von den italienischen schizophrenen Medien vergessen.

Das verbreitete Verständnis davon lautet, dass diese Menschen aufgrund der Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sofort in andere europäische Länder umgesiedelt werden. Wie wir bereits gezeigt haben, erfolgen dennoch die Umsiedlungen nicht nur nicht unverzüglich, sondern es gehen auch eine Reihe von Interviews mit Delegationen aus europäischen Ländern voraus, welche nur Verwirrung und Zweifel an der Art der Umsiedlung aufkommen lassen. Die meisten Migrant*innen, die wir getroffen haben, sind davon überzeugt, dass ihnen, nachdem sie den „Test“ im Interview mit den Delegationen überstanden haben, de iure internationalen Schutz gewährleistet wird. In Wirklichkeit wissen wir genau, dass die „Ausgewählten“ den langen Prozess des Asylantrags noch vor sich haben, und immer noch die Möglichkeit besteht, dass sie abgeschoben werden.

Deswegen lesen wir mit einem bitteren Lächeln den Leitartikel von der linken Tageszeitung „il manifesto“ vom 15. September nach der Anlandung der Ocean Viking, in dem mit einem erleichterten Seufzer erklärt wird, dass diese Menschen „Kinder, Frauen, Männer, endlich trinken, essen, sich um ihre Gesundheit kümmern, hoffen und Asyl suchen können“, weil die Annahme dieser ganzen Forderungen nicht so offensichtlich ist. In Anbetracht der Erzählungen, die wir gehört haben, wissen wir, dass unter dem Vorwand, die Menschen erst nach der Umsiedlung von Ärzten behandeln zu lassen, keine medizinische Hilfe bereitgestellt wird; dass den Opfern von Folter in Libyen keine psychologische Unterstützung geboten wird; dass Männer, Frauen und Kinder in kleinen Räumen leben, in denen prekäre hygienische Verhältnisse herrschen, mit beschlagnahmten Telefonen und dem Verbot mit Menschen außerhalb der Struktur zu kommunizieren.

Zu behaupten, dass es eine Diskontinuität mit der vorherigen Regierung gibt, lässt uns vor diesen Situationen erblinden, wobei der Akzent auf die – stets im Rampenlicht stehende – Anlandung gelegt wird, ohne, dass sich darum gekümmert wird, was danach passiert. Das Problem ist die Normalisierung dieser informellen Vereinbarungen, die keine klaren Kriterien aufweisen, und daher weder reguliert noch normiert werden. Demnach wird ein Vakuum in der Rechtsprechung geschaffen, dank dem alles gewährt wird. Es scheint als spiele dies keine Rolle, da das Schicksal dieser Menschen sich nicht in Italien abspielen wird und es daher nicht notwendig ist, sich um sie zu kümmern, obwohl sie monatelang in den Hotspots bleiben.

Aus diesem Grund können die auf dem Gipfel in Valletta getroffenen Entscheidungen nicht zufriedenstellend sein. Erstens, weil die Arbeit der libyschen Küstenwache weiterhin gelobt wird, ungeachtet des Bürgerkriegs und der Morde, die die libysche Küstenwache weiterhin begeht. Zweitens, weil eine automatische Umverteilung nichts anderes bewirken würde, als diese Verfahren zu normalisieren, ohne sie jedoch zu regulieren, und somit informell und ohne Möglichkeit einer Überwachung bleiben würde. Zudem stehen wir dem Wechsel der Zielhäfen skeptisch gegenüber, da die Ströme nach Griechenland und Spanien derzeit höher sind als die nach Italien. Daher scheint das Abkommen eine Mogelpackung zu sein, die Sizilien aufgrund von monatelang andauernden Umsiedlungen in ein Freiluftgefängnis verwandeln wird – ein Teil der Menschen, die im Juni von der Sea Watch gerettet wurden, sind immer noch in Messina wo sie darauf warten, nach Deutschland und Finnland umgesiedelt zu werden.

Aus diesem Grund fordern wir, dass die Vereinbarungen die automatischen Umverteilungen regeln und standardisieren; Durch klare und spezifische Praktiken, durch Kontrollen darüber, wie Menschen ausgewählt werden und wie die Delegationen Migrant*innen interviewen. Vor allem muss medizinisches und psychologisches Personal zur Verfügung gestellt werden, damit diese Menschen nicht mehr wie Kriminelle eingesperrt werden, und um Würde und die Gewährleistung von Menschenrechten wiederherzustellen.

Das Tor Europas auf Lampedusa – Foto von Silvia Di Meo

Die Zusammenstellung der Zeug*innenaussagen auf Lampedusa – von den Worten der festgehaltenen Migrant*innen, über die Geschichten der Mitarbeiter*innen von Mediterranean Hope, die die Anlandungen und die Geschehnisse danach mit Engagement verfolgen, bis hin zu den Berichten der Aktivist*innen des Forums Lampedusa Solidale – zeigt ein Bild, das eine viel komplexere und artikulierte Situation darstellt als die von den Medien reproduzierten Stereotype. Auf dieser Insel gibt es neben den leblosen Leichen von Migrant*innen, die auf dem „Friedhof der Unbekannten“ und dem verlassenen „Friedhof der Boote“ beerdigt werden, offensichtliche gesetzeswidrige Praktiken innerhalb des Hotspots, die über die Gleichgültigkeit, die die Zusammenhänge durchdringt, aufgedeckt werden müssen.

Denn jenseits von diesem Tor Europas, das als bedeutungsloses Mediensymbol fungiert, blickt die Menschheit auf der Durchfahrt weiterhin mit hoffnungsvoller Entschlossenheit, auch wenn die Scheinwerfer ausgehen und die Abschiebungen und Umsiedlungsverfahren beginnen. Die einzige Möglichkeit, die Erhaltung der Rechte all dieser Menschen zu gewährleisten, besteht darin, die sofortige Umsiedlung aus dem Grenzgebiet an jene Orte zu erleichtern, die für die Aufnahme und den Aufenthalt geeignet sind, wo die Grundbedürfnisse befriedigt werden können und die Voraussetzungen, den Schutzantrag einzureichen, gegeben sind.

Durch die gemeinsame Überwachung mit den Aktivist*innen auf Lampedusa werden wir weiterhin sicherstellen, dass die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Ungerechtigkeiten, die die Migrant*innen erleben, gerichtet wird: Vor und nach der Anlandung an der Insel-Grenze, bei den Verstößen und der Gewalt, denen sie unterworfen sind, bei der Ausübung einer unkontrollierten Macht, die auf See oder an Land weiterhin immer noch ungestraft die Rechte der Migrant*innen ignoriert.

Silvia Di Meo
Valeria Grimaldi
Peppe Platania

Borderline Sicilia

ASGI – Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione: Verein für juristische Studien zur Immigration.

Aus dem Italienischen übersetzt von Alexa Vittur