Hauptstadtmafia – Mineo an vorderster Front?

„Flüchtlinge
fühlen sich in Mineo wie im Gefängnis“

Die Versuchung, diesen Artikel mit “wir
haben es ja gesagt” zu beginnen ist groß, aber
müßig. Genau so müßig ist es, sich zu empören, vor allem wenn diese
Empörung, wie es meist geschieht in Italien, verpufft, sobald die
Aufmerksamkeit für den Skandal der „Mafia Capitale“ in Italien nachlassen wird.
Noch unnötiger für die Leidenden ist die bewährte und dem herrschenden System
nützliche Jagd nach dem Sündenbock. Aktuell sind die Anwärter für diese Rolle
allen voran Luca Odevaine. Zu ihm wird sich unserer Meinung nach der
Untersekretär der regionalen Landwirtschaftsbehörde Giuseppe Castiglione
gesellen. Wir könnten weiter berichten, wie gross und welche die
Verantwortlichkeiten der eben genannten in der Gründung, der Geschäftsführung
und der Befürwortung des
Aufnahmezentrums für Asylsuchende in Mineo sind, aber wir unterlassen
das in diesem Bericht.

Zudem klagen wir das Business, das mit der
Aufnahme der Asylsuchenden betrieben wird,
seit Jahren an. Wer sich informieren will, wird leicht fündig: es steht
eine grosse Zahl von Artikeln, Recherchen und Dokumenten zu diesem Thema zur
Verfügung. Wir widerstehen also der Versuchung noch einmal zu beschreiben, wie
der damalige Ratspräsident Berlusconi und der Minister des Innern Maroni dieses
Ghetto konzipierten: zum Vorteil des Unternehmens Pizzarotti & Co. Spa (Besitzer der
Residence degli Aranci) ,und dass bei jeder neuen Ausschreibung immer das
gleiche Unternehmen mit neuem Namen (Consorzio cooperative sociali Sisifo /
Consorzio Sol. Calatino / Senis Hospes s.c.s / Cascina Global Service S.r.l. /
Comitato provinciale della Croce Rossa Italiana und eben auch Pizzarotti
& c. s.p.a.), die Bewerbungsauschreibung
gewann und als Betreiber ausgewählt wurde.

Wir möchten den Blick viel mehr auf “die
Anderen” richten. Auf die Opfer. Es sind Viele. Tausende. Und sie tragen Vor- und Nachnamen. Sie
befinden sich in einer Art Vorhölle, die, wie um sie zu verspotten, von
einem Orangenhain umgeben ist. Dort
sollten sie Gäste auf der Durchreise sein, nicht Gefangene. Sie sind nur
verpflichtet, die Nacht dort zu verbringen, während des Tages können sie sich
frei bewegen. Diese “Freiheit” relativiert sich erheblich, wenn wir bedenken,
dass das nächstgelegene Dorf, eben Mineo, 11 km entfernt ist, und dass die
Verweilzeit im Empfangszentrum für Asylsuchende die vorgesehenen Fristen bei
weitem übersteigt. Und das ist der Kernpunkt des Skandals “Aufnahme” in
Italien, für den Mineo nur das Aushängeschild ist. Die Wartefristen für die
Anhörung vor einer der zuständigen Kommissionen, für die Anerkennung des
Anspruchs eines Flüchtlings auf internationalen Schutz, sind abnorm. Die
Asylbewerber warten durchschnittlich ein Jahr auf das Urteil, das ihr weiteres
Schicksal bestimmt. Den vielen negativen Bescheiden folgen logischerweise die Klageverfahren
und auch auf deren Verhandlung vor Gericht muss viele Monate gewartet werden. Die
Folge davon ist klar. Die Desorganisation und Ineffizienz liegen an der
Instrumentalisierung des Systems, denn die Verlängerung der Verweildauer der
Asylbewerber im Zentrum ist zum Vorteil der Betreiber dieses Zentrums.
Ausgehend von den Verantwortlichen, den Akteuren guten und weniger guten
Willens, den Komplizen und
Nichtwissenden müssen wir uns nicht lange fragen, wer die Unterlegenen in
diesem Geschehen sind. Es sind die Tausenden Asylsuchenden, die bisher nach
Mineo gebracht wurden und die aktuellen etwa 4000 dort wohnenden. Die Gesichter
wechseln, aber ihr Schicksal bleibt das gleiche. Seit der Eröffnung bis heute
haben die „Gäste“ des Aufnahmezentrums mehr als 10 Demonstrationen organisiert.
Allen diesen Demonstrationen liegen grundsätzlich die gleichen (oben
erwähnten) Forderungen, die Wartezeiten
auf Behördenentscheide zu verkürzen, zugrunde. Wir erinnern uns an die
Demonstration vom 19. Dezember 2013, als über 600 Asylbewerber ab morgens 6 Uhr
die Strasse von Catania nach Gela besetzten und von dort auf den Dorfplatz von
Palagonia zogen. Auch an dieser Demonstration war die Verweildauer ein Thema.
Zudem standen die Demonstranten unter einer besonderen Spannung an jenem Tag.
Ihre Wut und Entschlossenheit war die Folge des Selbstmordes von Mulue Ghirmay,
eines erst 21 jährigen Asylbewerbers, der sich wenige Tage zuvor in einem
Zimmer des Zentrums erhängt hatte. An dieser Veranstaltung, der eine öffentliche
Versammlung auf dem Hauptplatz von Palagonia vorausging (trotz der
Polizeipräsenz und der Spekulationen von Medien und der üblichen
Xenophoben) hörte man zum x-ten Mal die
gleichen (aber trotzdem unerwarteten) Versprechen für eine Erhöhung der Zahl
der Kommissionen für die Anhörung der Flüchtlinge und für die Reduzierung der
Bewohnerzahl im Aufnahmezentrum.
Seit damals hat sich wenig oder nichts geändert. Die Leiter des Zentrums
betreiben weiterhin ihre Propaganda mit beachtlichen Mitteln der Kommunikation,
die sie aufgebaut haben: Blog, soziale Netzwerke, die Fussballmannschaft CARA
MINEO, den Dokumentarfilm „ICH BIN ICH UND DU BIST DU“, der an allen
institutionellen Veranstaltungen und Begegnungsorten gezeigt wird, jetzt gerade
an den Schulen Catanias und deren Provinz und an vielen andern Orten. Zur
gleichen Zeit fragen sich die Asylsuchenden, wie lange es noch dauern kann, bis
sie ein selbstständiges Leben beginnen können.

Gleichzeitig mit den Ermittlungen erachten
wir es für unabdingbar, dass konkret auf die Forderungen der Asylbewerber, die
sich im Aufnahmezentrum befinden, eingegangen wird:

– die Erhöhung der Anzahl der für den
internationalen Schutz der Flüchtlinge zuständigen Kommissionen, damit mehr
Anhörungen pro Woche möglich werden

– die Herabsetzung der Wartezeiten in Klageverfahren
der Flüchtlinge im Falle von ablehnenden Entscheiden der Asylkommission

– die Ausstellung einer namentlichen
Bescheinigung und einer Aufenthaltserlaubnis für die Zeit des Asylverfahrens

– die Überprüfung und Abschaffung der
aktuellen, vollkommen willkürlichen Praxis, das Taschengeld von 2,50 Euro jeden
zweiten Tag durch eine Packung Marlboro Zigaretten zu ersetzen.

Mittel- und langfristig ist es aber
notwendig, das ganze italienische „Aufnahmewesen“ zu überdenken. Die Einrichtung
von grossen Empfangszentren hat jedenfalls kläglich versagt. Vor allem die ungenügende Anzahl von Plätzen und das
sich wiederholte Berufen auf den „Notfall“ hat zwei parallele Systeme
hervorgebracht. Denn das zur Gewohnheit gewordene viel zu lange Verbleiben in
den nicht geeigneten Notfallaufnahmezentren CAS erfüllt die vorgeschriebenen
Minimalstandards bei weitem nicht. Es wäre noch viel anderes nötig, aber, wie
eingangs erwähnt, liegt die Priorität in diesem Artikel auf den Opfern unseres
korrupten und chaotischen Aufnahmesystems:

·
Auf den Flüchtlingen, denen die
Schuld zugewiesen für unnütze Ausgaben eines Staates in permanenter ökonomischer
Krise wird.

·
Auf jenen, die in Mineo, ohne
es zu wissen, zum Hauptbestandteil des grossen „Aufnahmebetriebs“ geworden
sind, der die Bilanzen von Calatino Sud Simeto wieder saniert hat.

·
Auf jenen, die kriminalisiert und
zur Zielscheibe des Hasses und der wachsenden Ungeduld der Bürger Italiens
geworden sind.

·
Auf jenen, die während des
Wartens auf ein ihnen zustehendes Recht Jahre ihres Lebens verlieren.

·
Auf jenen, die ihr Leben
verloren habe.

Elio Tozzi,
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne