Unsere Verfassung liegt auf dem Grund des Mittelmeeres begraben

Laut den in den letzten Monaten gesammelten Daten sind wegen der politischen Entscheidungen Italiens und Europas fast tausend Personen ums Leben gekommen. Diese Menschen wurden getötet, weil die Häfen geschlossen wurden sowie um Komplizen-Wähler*innen zufrieden zu stellen, um die fortlaufende schlechte Politik zu vertuschen, sowie die Unfähigkeit einen Neustart zu schaffen, in einem mittlerweile orientierungslosen Land. Die Migrant*Innen sind das Bauernopfer für alle Regierenden. Mit ihrer Propaganda schaffen sie es, unsere Köpfe mit falschen Problemen zu füllen, während sie weiter Armut und Unsicherheit produzieren und die sozialen, zivilen und politischen Rechte zerstören.

Wer heute den rassistischen Maßnahmen Applaus schenkt und gefallen an dieser Politik findet, wird eines Tages einen hohen Preis dafür bezahlen.

Vor einer Woche haben wir einen Brief veröffentlicht, der von der Präsidentin der nationalen Asylkommission versendet wurde. In diesem Brief ging es um die Asylanfragen tunesischer Staatsbürger*Innen. Die Präsidentin der Asylkommission rief die Mitglieder aller Territorialkommissionen zum Schweigen auf. Am 4. Juli hat der Innenminister ein Rundschreiben erlassen, mit der Anweisung, die Anerkennung auf humanitären Schutz einzuschränken, um sie auf lange Sicht ganz auszusetzen.

Dabei vergisst der Minister, oder vielleicht ignoriert er es auch, dass der humanitäre Schutz auf Pflichten beruht, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind. Die selben Pflichten sind auch in Konventionen und in internationalen Abkommen enthalten, die von Italien ratifiziert worden sind. Der Minister für Inneres glaubt, dass der humanitäre Schutz unnötig geworden ist, da der subsidiäre Schutz eingeführt wurde. Dabei vergisst oder ignoriert der Innenminister, dass es sich dabei um zwei verschiedene Verfahren handelt, die in unterschiedlichen Fällen angewandt werden. Neben fehlerhaften Inhalten enthält das Rundschreiben unbegründete Informationen: so wird darin bekräftigt, dass in den letzten Jahren Aufnahmegenehmigungen aus humanitären Gründen erneuert wurden, ohne dass der Fall von der Territorialkommission neu geprüft wurde. Zudem wird behauptet, dass es den humanitären Schutz in anderen europäischen Ländern nicht gebe. Der fast schon einschüchternde Ton, mit dem sich der Brief an die Präsident*innen der Kommissionen richtet, ist nicht inakzeptabel. „Härte und Gründlichkeit“ beim Überprüfen der Fälle sollen zu viele Anerkennungen auf humanitären Schutz einschränken, die von „der ausgiebigen Rechtssprechung“ verursacht wurden. Denn dieses System habe, so heißt es weiter im Rundschreiben, „ soziale Probleme verursacht und die Sicherheitslage verschlechtert“.

Zur Erinnerung, es ist einem politischen Organ untersagt, die Verwaltung zu beeinflussen, welche die Pflicht hat, ausschließlich nach der korrekten Interpretation des Rechts zu handeln. Wir betonen, dass die Mitglieder der Territorialkommissionen, zu denen bald auch die neuen Beamt*innen des Innenministeriums gehören werden, die Pflicht haben autonom und ohne politische Beeinflussung zu handeln.

Während verbale Gewalt und Grausamkeit in den Sozialen Medien keine Grenzen mehr kennen, kommt es auch im realen Leben zu schlimmen und alarmierenden Vorkommnissen. Die Meldungen von Überfällen und Gewalttaten gegenüber Migrant*innen nehmen zu. Tagtäglich erreichen uns Meldungen von gewalttätigen Übergriffen. Die Opfer werden von den Einrichtungen allein gelassen. Die Genossenschaften scheinen in der florierenden Aufnahmeindustrie immer mehr Freiheiten zu haben. So beobachten wir Zentren, die sich von einem Tag auf den anderen verändern. Aus einem Aufnahmezentrum für unbegleitete Minderjährige wird zum Beispiel ein außerordentliches Aufnahmezentrum für Erwachsene. Die Gäste aber bleiben möglicherweise die selben. Zahlreiche Minderjährige werden auf diese Weise in eine bürokratische Sackgasse gedrängt und ihrer Zukunft beraubt. Die Politik akzeptiert diese rein wirtschaftlichen Entscheidungen stillschweigend, ihre regelmäßigen Angriffe gegen das Aufnahmebusiness sind hingegen nur fruchtlose Rufe, die den Rassismus und den Hass auf die Migrant*Innen ankurbeln. Zahlreiche Erst- und Zweitaufnahme Zentren für unbegleitete Minderjährige werden, wie wir schön öfters betont haben, geschlossen. Andere Zentren werden trotz allem geöffnet.

Die Situation in der Region Sizilien spitzt sich zu. Zeug*innen sprechen von vermehrten Unregelmäßigkeiten. Die Frage wer und nach welchen Kriterien Zentren eröffnet wird immer dringlicher.

Das Geschäft mit der Aufnahme wird durch die Eröffnung neuer Erstaufnahme-Zentren für Minderjährige immer komplexer. Diese sind vom Fond FAMI für Asyl, Migration und Integration des Innenministeriums finanziert. Die unbegleiteten Minderjährigen die jetzt ankommen, passieren direkt die FAMI-Zentren in ganz Italien, trotzdem halten die Unregelmäßigkeiten an. So stehen beispielsweise mit FAMI-Geldern finanzierte Zentren leer, während Minderjährige in Erstaufnahme-Einrichtungen für Erwachsene kommen. Es könnte sich um Zufälle handeln, würden sich nicht immer die selben Erstaufnahme-Einrichtungen füllen, während die kleineren, die ohne politische Unterstützung, immer leer und nahe an der Schließung bleiben. Die FAMI-Zentren werden für die gesamte Projektlänge voll finanziert, auch wenn sie leer stehen. Die großen Haie des Aufnahme-Business werden immer zufrieden gestellt, wie diese Nachricht zeigt, die vor wenigen Tagen über Verhaftungen in Trapani berichtete.

Zahlreiche Meldungen weisen auf die Unachtsamkeit gegenüber der psychologischen Verwundbarkeit der Ankommenden hin. Zahlreiche Geflüchtete, wie PHR (Ärzte für Menschenrechte) berichten, leiden an post-traumatischen Störungen, verursacht vom Stress während der Überfahrt, während ihres Aufenthalts in Libyen und der haarsträubenden Zeit vor ihrem Aufbruch. Die Ankommenden sind häufig auf die obligatorische sanitäre Behandlung angewiesen. Dazu kommt es wegen der Unangemessenheit der Behandlung in den Zentren, aber auch und vor allem wegen der der Institutionen, die genau diese Menschen schützen müssten. Sogar der zentrale Dienst der Gesundheitsbehörde schafft es nicht, die nötigen Lösungen zu finden und besonders schutzbedürftige Personen in eine entsprechende Einrichtung zu überweisen. Die meisten Zentren schaffen es nicht, die Migrant*Innen zu begleiten und in dem Maße zu unterstützen, wie es die Konvention vorsieht. Sizilienweit verlassen hunderte Jugendliche die Zentren nach Jahren einer mehr oder weniger würdevollen Aufnahme, weil sie zwar eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen haben, aber kein Antrag auf Umsiedlung in ein Schutzsystem für Asylantragsteller*Innen und Geflüchtete gestellt wurde.

Während die neuen Sheriffs auf Land und See es schaffen, das Mittelmeer in einen noch größeren Friedhof zu verwandeln, schweigen die Nachrichtendienste über die Ankünfte, die es nach wie vor an unseren Küsten gibt. In den letzten Tagen hat die Küstenwache 57 Personen gerettet und in den Hafen von Augusta gebracht, die in der Türkei gestartet waren. Eine kleine Gruppe von Tunesier*innen kam nach Favignana. Und seit gestern ist die Ankunft des irländischen Militärschiffs Samuel Beckett von EunavforMed in Messina bekannt, das 106 Migrant*Innen gerettet hat.

Unsere Verfassung geht im Mittelmeer unter, zusammen mit tausenden Menschenleben. Die meisten Menschen sind angezogen vom Strudel des Hasses, der sich in Richtung gefährlichen Abdriftens bewegt.
Wir müssen versuchen nicht unterzugehen und stand zu halten gegenüber dieser Welle des Faschismus. Solange es Menschen gibt die vor dieser Situation nicht resignieren, wird es immer die Hoffnung auf Veränderung geben. Eine Freundin von uns sagt: “Dort wo die Häfen nicht geöffnet werden, werde ich sein, ich werde weiterhin die Fenster öffnen. Von diesen Fenstern aus werde ich nicht nur Personen herein lassen, sondern es wird nötig sein, Geschichten zu erzählen und vor allem den Lärm und die Gewalt jener zu übertönen, die Hass streuen.”

Redaktion: Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner