Das sind doch keine Menschen, sondern Marokkaner*innen!

Wir
haben uns ein bisschen Zeit genommen, um davon zu berichten, was in
Palermo vor drei Wochen passiert ist. Damals brachte das Schiff
„Dattilo“ der italienischen Küstenwache 1048 Flüchtende nach
Palermo. Wir haben uns ein bisschen Zeit genommen, um die
systematischen, menschenunwürdigen Zustände zu beschreiben, die
tägliche Rechtsbrüche darstellen. Und wir haben uns ein bisschen
Zeit genommen, um an jene zu erinnern, die in Italien und Europa
weniger als Tiere gelten. Sie sollen durch diesen Artikel ein wenig
Erleichterung aus ihrer täglichen Qual finden. Wir nehmen Bezug auf
einen anonymen Brief, der uns erreicht hat. Er stammt von einem
freiwilligen Helfer, der am Hafen zugegen war.


“Leider
ist das ausgerechnet in Palermo passiert, in der Stadt, die ich die
meine nenne. Das tut noch mehr weh, als wenn es woanders passiert
wäre. Weil jeder von uns immer denkt, dass er besser und gutmütiger
ist als andere. Unsere Stadtverwaltung glaubt von sich, die erste
europäische Stadt zu sein, die eine Willkommenskultur bietet. Aber
bei der Landeoperation am 7. November 2016 hat sie genau das
Gegenteil bewiesen. Die Stadt Palermo und alle anderen
verantwortlichen Stellen wie das Polizeipräsidium, die Präfektur
und die ASP* haben alle Maßnahmen aufgewendet, die wir als
unmenschlich bezeichnen.“

Der
Landevorgang hat alle in Mitleidenschaft gezogen, die daran beteiligt
waren: Die Geflüchteten zuallererst, die 40 Stunden warten mussten,
bis sie an Land gehen konnten. Die Schiffsbesatzung, die zwei Tage im
Hafen bleiben musste. Die Polizei, die ständig vermeintlich
„gefährliche Menschen“ bewachen musste, die andernfalls geflohen
wären. Nicht zuletzt die Ärzt*innen, die sich abwechseln mussten,
sowie die freiwilligen Helfer*innen, die die Zeit nicht mehr kennen
und sich selbst ausbeuten. Alle sind Opfer eines Systems, das nicht
funktioniert. Wären diese Menschen nicht da, würde es von alleine
implodieren.

Eine
Stadt, die sich sonst als gastfreundlich gibt, hat dieses Mal noch
nicht einmal die Leichname empfangen. Wenn Leichen gebracht werden,
zieht das viel Aufmerksamkeit auf sich: von der Bürgerschaft zum
Bürgermeister, vom Bischof zu den Journalist*innen, vom Fernsehen
bis zu den Stadträt*innen. Aber diesmal waren die Leichname nicht
angekündigt, sodass es keine Zeit gab, den Kai vorzubereiten. Die
Stadt war noch nicht mal darauf vorbereitet, den Opfern eine würdige
Ankunft zu geben. Zwischen den Toten waren zwei Kleinkinder, die wir
auf See getötet haben. Wir haben unsere Gesetze geopfert und unsere
Gleichgültigkeit bewiesen.

Nur
ein einziger Pfarrer, der oft am Hafen zugegen ist, hat die Leichen
umarmt, für einen kurzen Moment.

Diesmal
aber sind wir zu weit gegangen, denn die Verantwortlichen haben
keinerlei Hilfestellung am Hafen gegeben, weder physische noch
psychische Unterstützung. Die Organisationen, die sich ansonsten
darum kümmern, waren nicht da, obwohl sie auch sonst keine leichte
Arbeit haben. Der Mutter, die zwei Kinder verloren hatte, wurde keine
besondere Aufmerksamkeit zuteil, vielmehr wurde sie ihrem eigenen
Schicksal überlassen, ohne dass sie das Ziel ihrer Reise erfahren
kann.

Wir
sind sogar weiter gegangen: Zwei Kinder aus der Elfenbeinküste von
einem und vier Jahren, die ihre Mutter auf der Reise verloren haben,
wurden nach einer ärztlichen Untersuchung sofort und ohne gesonderte
Betreuung zu einem Auffanglager für besonders junge unbegleitete
Minderjährige geschickt. Wenigstens kam es nicht dazu, dass sich
Journalist*innen von Fernsehen und Zeitung auf sie gestürzt haben,
wie es sonst im Medienzirkus passiert. Eine Verantwortliche der ASP
hat sich wenigstens darum gekümmert, dass die Kinder in ihren
Persönlichkeitsrechten geschützt werden.

Der
Ladevorgang war besonders anstrengend, denn die Passagiere des
Schiffs „Dattilo“ waren schon drei Tage und zwei Nächte auf See
gewesen und daher schon sehr gefordert. Sogar die Besatzung war
gereizt, man konnte die Anspannung förmlich spüren. Ein Grund dafür
war sicherlich die fehlende Organisation und Anleitung durch das Land
und das Polizeipräsidium, dessen Zuständigkeit immernoch ungeklärt
ist und die Angelegenheit erschwert, zu Lasten derer, die ankommen.

Die
Menschen, die das Schiff verlassen haben, waren spärlich gekleidet,
ihre Kleidung war nass. Aber in solchen Gelegenheiten zählt nur,
schnell die Schlepper*innen und die Zeug*innen auszumachen. Die
Besatzung des „Dattilo“ hatte bereits die Schlepper*innen erkannt
(unter ihnen ein 17-Jähriger), während die Polizei die Zeug*innen
gesucht hat.

Die
Widersprüchlichkeit hat sich am Nachmittag des 7. Novembers gezeigt,
als der Kapitän 50 Marokkaner*innen befohlen hat, das Schiff zu
verlassen, weil sie sich über Kälte und Nässe beklagt hatten.
Sobald die Polizist*innen erkannt haben, welche Nationalität
diejenigen hatten, die das Schiff vorzeitig verlassen haben,
entbrannte ein Streit zwischen ihnen und dem Kapitän, dazwischen die
Ärzt*innen des ASP. Niemand wollte sich der Marokkaner*innen
annehmen, die von allen als Tiere empfunden werden, die zu allem
fähig sind, als seien sie unkontrollierbare Menschen. Der Kapitän
hatte Angst vor Unruhe auf dem Schiff, die Polizei wollten aber, dass
sie auf dem Schiff bleiben, weil sie nur 10 Mann hatten, um die Lage
zu kontrollieren. Die ASP war unfähig, Position zu beziehen, obwohl
die Wahl gewesen wäre, sie entweder mit nasser Kleidung auf dem
Boden schlafen zu lassen, oder sie auf dem Schiff ohne ärztliche
Kontrolle zurückzulassen. Der Kapitän war empört darüber, dass
niemand von der Ankunft wusste im Hafen von Palermo. Wer sollte nun
die Verantwortung für weitere Tote übernehmen, wenn man sie im
prasselnden Regen stehen lassen sollte? Es gab keinen überdachten
Bereich, wo man sie hätte ausharren lassen können. Währenddessen
verschlechterte sich das Wetter. Niemand hat daran gedacht, ein
würdiges Empfangen zu gewährleisten. Von wegen erste Stadt in
Europa.

Nachdem
das Spektakel vorüber war, wurden die Marokkaner*innen, die für
Gewalttätige und Kriminelle gehalten wurden (unter ihnen waren auch
Frauen), gezwungen, das Schiff wieder zu besteigen. Dem Kapitän ist
es indes gelungen, sie gegen andere 100 Geflüchtete einzutauschen,
die vom Schiff heruntergestiegen sind, um mehr Platz zu machen. Diese
Marokkaner*innen haben mit Geduld ertragen, dass ihre Ankunft weder
geplant noch ihrer würdig war.

Wir
haben auch vernommen, dass das Militär an Bord sehr gewaltsam die
Streitereien aufgelöst hat, die sich bei den Passagieren entwickelt
hatte. Die Spuren an ihren Körpern, die Hiebe oder Stöße
hinterlassen haben, könnten sowohl vom Militär, aber auch von
Angriffen in Libyen herrühren. Das bestätigt dieses deprimierende
Bild. Ich frage mich manchmal, ob es nicht besser wäre, diese
Menschen auf See zurückzulassen, statt sie wie geschehen
aufzunehmen. Wenn wir sie eh nicht möchten, können wir auch besser
schlafen.

Wir
Ehrenamtlichen mussten uns durchsetzen, damit wir ihnen Decken und
Nahrungsmittel auf das Schiff bringen konnten. Wir mussten die Mauer
der Gleichgültigkeit von manchen Polizist*innen durchbrechen. Andere
Poliziste*innen haben uns geholfen. Die Haltung entspricht folgendem:
Sie sollen froh sein, dass sie nicht auf dem Meer krepiert sind. Also
sollen sie dankbar sein.

Wir
Ehrenamtlichen mussten dann Zeug*innen werden von einer ärztlichen
Behandlung seitens des ASP, die kühler und distanzierter nicht hätte
sein können. Hektisch werden die Geflüchteten durchgereicht und
abgefertigt. Hier handeln Ärzte, die man nicht oft im Hafen zu
Gesicht bekommt. Vielleicht eilen sie nur so von Patienten zu
Patienten, weil es politisch so gewollt ist. Denn das Italienische
Rote Kreuz und andere Institutionen haben längst klare Positionen
bezogen und sich geweigert, Menschen zu verarzten, wenn andere
währenddessen im Leid warten müssen. Der ASP hingegen schweigt.

Schweigen
das wir leider nicht von den Agent*innen von Frontex (Europäische
Agentur für Grenz- und Küstenwache) vernommen haben, welche immer
aggressiver und immer lauter, immer präsenter werden . Obwohl sie
eigentlich die Registrierungsstelle besetzen, um die
Voridentifikation zu betreiben, sehen sie nicht davon ab, die
Ankommenden zu befragen, während sie sich gerade umziehen.
Skrupellos wird den Geflüchteten noch nicht einmal ein Moment zum
Durchatmen gegeben. Wir Ehrenamtlichen versuchen die Agent*innen
daran zu erinnern, dass sie sich erbarmen sollen und wenigstens einen
kurzen Augenblick Abstand nehmen sollen. Frontex ist überall und
verhindert auch die Arbeit jener, die die Geflüchteten über ihre
Grundrechte informieren wollen. Es kommt vor, dass Agent*innen
Geflüchteten vereinzelt vernehmen, bis sie vor Ermüdung und Hunger
zusammenklappen. Während der Befragung essen die Agent*innen selbst
gerne was und ruhen sich offensichtlich aus.

Die
Nach vom 7. November was auch deshalb so schlimm, weil es kalt war
und regnete. Der Ladungssteg war voller Pfützen. Die Stadt Palermo
kümmerte sich nicht darum, dass unbegleitete Minderjährige die
Nacht auf dem Ladungssteg verbringen sollten. Durch Zufall hat sich
die eiserne Humanität der NGOs durchgesetzt, sodass die Jugendlichen
wenigstens im Bus übernachten durften.

Wir
fragen uns selbst, wir fragen auch den Bürgermeister unserer Stadt
(der abwesend war) und den Bischof (der unbeeindruckt vom Geschehen
war, statt an diejenigen zu appellieren, die die Macht haben, etwas
zu ändern): Warum werden keinerlei Vorkehrungen getroffen, damit es
den Menschen besser geht, oder wenigstens um die Strapazen ein wenig
zu mindern? Wo bleiben die Zelte oder die Busse, um die Menschen in
Sicherheit zu bringen?

Der
Ausgang dieser Ausschiffung wiederholte sich noch einmal am nächsten
Tag, als 250 unsagbar gefährliche Marokkaner*innen abgeschoben
wurden. Es geschah in kleinen Gruppen und nachts, damit niemand es
merkte. In der Nacht vom 8. November hat die Stadt Palermo bis zum
Morgengrauen durchgängig Zurückweisungen an Geflüchtete verteilt,
besonders Schutzbedürftige, Frauen, Minderjährige oder Männer, die
Angehörige in Libyen verloren haben. Der Bahnhof von Palermo war am
frühen Morgen voll von Marokkaner*innen, unter ihnen auch fünf
Libyer*innen. Wer ein wenig Geld in der Tasche hatte, fuhr los. Wer
nicht, blieb auf die ehrenamtliche Hilfe angewiesen, die vor Ort war.
Um ehrlich zu sein, hat nur der Vorsitzende der Caritas, nachdem man
ihn kontaktiert hatte, angeboten, etwas zu Essen zuzubereiten.

Wir
haben die Jugendlichen zum Zentrum „Astalli“ gebracht, damit sie
sich duschen und sich umziehen können. Wir haben ihnen zu Essen
gegeben, aber auch Auskunft. Manche kannten die Entfernung zwischen
Palermo und Paris nicht, um nur ein Beispiel zu nennen. Diese
Menschen werden unsichtbar, obwohl sie sich in unserem Land befinden.
Und sie sind leichte Beute für diejenigen, die sie ausnutzen wollen.

Unter
ihnen sind drei Männer, dessen Frauen schon zum CIE nach Rom
gebracht worden sind. Ihnen wurde von Frontex vorgelogen, dass ihre
Frauen über Nacht im Büro schlafen, damit sie nicht in der Kälte
übernachten müssen, und stattdessen weggeschafft worden sind. Die
drei Männer, zwei Marokkaner und ein Libyer, sollten sie angeblich
am nächsten Morgen abholen können. Tatsächlich aber ließ man sie
nicht hinein, man sagte ihnen, dass sie in Rom seien. Erst später
stellte sich heraus, dass mit „Rom“ die Ponte Galeria a Roma
gemeint war, ein Auffangzentrum. Wir wissen ja bereits, dass es
politisch gewollt ist, Familien auseinander zu reißen.

Nach
zwei langen Tagen des Wartens ist es den Geflüchteten gelungen,
wegzufahren. Es ist eine moderne Form von Sklaven, die wir nach
Belieben ausbeuten können. Für die, die geblieben sind, bleibt
keine milde Behandlung. Auf dem Foto ist zu sehen, wie diejenigen
behandelt werden, die gerade aus Krankenhäusern entlassen werden.
Ein Junge wurde mit einem erkennbaren Loch im Sprunggelenk und hohem
Fieber entlassen. Ich halte dieses Verhalten für strafbar. Ein Arzt,
der denkt, dass jeder, der nicht auf hoher See ist, sich glücklich
schätzen und nichts weiter einfordern dürfte, unterscheidet sich
nicht von jenen die denken, dass im Grunde Marokkaner*innen keine
Menschen sind.

Wir
danken dem oder der Ehrenamtlichen, die uns dieses Protokoll hat
zukommen lassen. Wir betonen nochmal, dass die Schwierigkeiten auch
an Land fortexistieren: Unbegleitete Minderjährige müssen ohne
Geschlechtertrennung in überfüllten Lagern warten, werden als Ware
gehandelt (dieser Fall wurde schon „Save the Children“ gemeldet).
In anderen Lagern weigert sich die Aufnahmeleitung, mit den
Geflüchteten zu sprechen. Nicht nur im Lager Saturu, sondern auch in
Piana degli Albanesi, beides in Palermo, weigern sich die
Lagerleitung, den Geflüchteten das Taschengeld auszubezahlen, auf
das sie einen Anspruch haben.

Der
Winter ist da und die Menschen fliehen vor so einer unwürdigen
Aufnahme in unserem Land.

Redaktion Borderline Sicilia

ASP*-
Azienda Sanitarie Provinciali Gesundheitssystem der Provinz Sizilien

Aus
dem Italienischen von Alma Maggiore