Die Routen der Migrant*innen: Online-Karte mit Berichten, zwischen Folter und Missbrauch

Redattoresociale.it – Sie heißt „Esodi“ (it. für Abwanderungen) und wurde von Medici per i diritti umani (Medu – Ärzte für Menschenrechte) erstellt. Die Organisation hat die Berichte von über 2.600 Personen zusammengestellt, die die Wüste durchquert, die Grausamkeiten der libyschen Gefängnisse durchlitten und das Mittelmeer überquert haben. Barbieri: „Nicht nur Zahlenmaterial. Wir wollen verständlich machen, womit diese Menschen konfrontiert werden.“

Die langen Reisen durch die Wüste, die Grausamkeiten in den libyschen Gefängnissen, die erlittene Gewalt, die Erzählungen derer, die andere Migrant*innen auf dem Weg haben sterben sehen, die Boote, ein Spielball der Wellen des Mittelmeeres. In der neuen Online-Karte über die Migrationsrouten aus den subsaharischen Ländern in Richtung Europa, die von Medu realisiert und heute Morgen im Pressezentrum in Rom vorgestellt wurde, gibt es nicht nur eine interaktive Karte mit Daten und Zahlenmaterial. „Esodi“ ist ein Portal, das es ermöglicht, die Migrationsrouten durch mehr als 2.600 direkte Zeug*innenberichte von Migrant*innen kennenzulernen, die in fast vier Jahren (2014-2017) gesammelt wurden, über die Hälfte allein im Jahr 2017. „Das ist ein Teil der neunhunderttausend Menschen, die in den letzten 16 Jahren an den italienischen Küsten angekommen sind – erklärt die Organisation – fast die Hälfte davon in den letzten drei Jahren. Sie gehören zu den Überlebenden der Route über das zentrale Mittelmeer, das seit 2002 mindestens 20 000 Opfer, Tote und Vermisste, zählt, zu den Überlebenden der Durchquerung der Sahara und zu den Überlebenden der Verhaftungen und der Entführungen entlang der Landwege. Die Zahl dieser Opfer ist sicher sehr hoch, kann jedoch nicht genau beziffert werden.“

Die interaktive Karte ist leicht zu bedienen und ermöglicht über Videozeugnisse, Graphiken und Statistiken eine umfassende Darstellung dessen, was sich jenseits der Meerenge von Sizilien ereignet. „Es gibt so viele Karten mit Daten und Statistiken, die die Migrationsrouten erklären“, erläutert Alberto Barbieri, hauptverantwortlicher Koordinator von Medu. „Diese Karte liefert Daten, aber das Wichtige sind die direkten Erzählungen und die Zeugnisse derer, die diese Reisen auf sich genommen haben. Wir versuchen zu verdeutlichen, womit diese Menschen wirklich konfrontiert waren. Es handelt sich um eine Karte, die auf den Erzählungen der Migrant*innen beruht.“ Das Durchschnittsalter der von Medu betreuten und interviewten Personen (darunter 2.406 Männer und 197 Frauen) ist 26 Jahre, erklärt die Organisation. Unter ihnen befinden sich 205 Minderjährige, die fast alle in den informellen Ansiedlungen in Rom angetroffen wurden. Die in Sizilien angetroffenen Migrant*innen waren alle Asylsuchende aus institutionellen Einrichtungen, in Rom und Ventimiglia hatten alle Migrant*innen andere europäische Länder zum Ziel, in Ägypten waren es dort wohnhafte Geflüchtete und inhaftierte Migrant*innen.

Die Erzählungen derer, die es geschafft haben, lassen einen erschaudern, jedoch scheinen die erlebten Haftbedingungen, von denen viele Migrant*innen in Libyen erzählen, die internationale Gemeinschaft nicht sehr zu interessieren. „Im Moment befinden sich Hunderttausende festgesetzte Migrant*innen in Libyen, erzählt Barbieri, in der Mehrzahl unter den Bedingungen von Haft, Freiheitsberaubung und Versklavung. Die Zahlen sprechen von vierhunderttausend Personen, aber vielleicht sind es noch mehr. Die von uns gesammelten Zeugnisse beschreiben ein Land, das eine Art großes Lager geworden ist, wo Migrant*innen der Gewalt und schlimmsten Missbrauchserfahrungen ausgesetzt sind. Ein Land, in dem die Verbrechen gegen die Menschlichkeit so gut wie in allen Bereichen begangen werden. Ein Ort des Todes und der Folter für hunderttausende Menschen. Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert mit Nachdruck und großer Eile darauf zu reagieren, was im Moment jedoch nicht passiert.“ Eine dramatische Situation, erklärt die Organisation, wie es in den Erzählungen von Migrant*innen über Tripolis, Sabha, Gharyan, Beni Walid, Zawiya und Sabratha bezeugt wird.„Beim ersten Mal, als ich ins Meer aufbrach, fing uns die libysche Küstenwache ab und brachte uns wieder an Land“, erzählt ein 25-jähriger Migrant im Juli 2017 den Mitarbeiter*innen von Medu im Hotspot von Pozzallo. „Sie haben uns in ein Gefängnis in Zawiya gebracht, das Ossama Prison. Was dieses Gefängnis von anderen unterscheidet, ist, dass man, wenn man Lösegeld bezahlt, sicher ist, wieder freigelassen zu werden, was auf andere Gefängnisse nicht immer zutrifft. Es geschehen dort unendliche Grausamkeiten und Folterungen, aber mit dem Ziel, Geld zu erhalten. Dieses Gefängnis wird einmal im Monat von einer europäischen Kommission kontrolliert. Während des Besuchs lassen die Wächter alle Folterinstrumente, die Ketten verschwinden und öffnen alle Zellen, so dass es mehr nach einem Flüchtlingslager als nach einem Gefängnis aussieht. Wenn dann der Besuch beendet ist, fängt alles wieder von vorne an.“ Nach Einschätzung von Medu stehen 30 Hafteinrichtungen formell unter der Kontrolle der libyschen Regierung von Al Sarraj mit sechs- bis fünfzehntausend Personen in diesen Gefängnissen. „Die restlichen zehntausenden Migrant*innen, führt Barbieri fort, befinden sich in einem riesigen schwarzen Loch, das aus Orten der Haft und der Freiheitsberaubung besteht, die von Milizen, Schleppern und kriminellen Banden wie den Asma Boys kontrolliert werden.“

Nach den von Medu erhobenen Daten haben in den vergangenen vier Jahren 85% der Migranten, die aus Libyen kamen, Folter und unmenschliche und entwürdigende Behandlung erfahren. 79 Prozent waren an überfüllten Orten und unter schrecklichen hygienischen Bedingungen inhaftiert oder der Freiheit beraubt, 60 Prozent von ihnen wurden anhaltend Nahrungsmittel, Wasser und ärztliche Behandlung vorenthalten, schließlich mussten etwas mehr als die Hälfte schwere Schläge erleiden, aber auch Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen, Verbrennungen, Falaka (Schläge auf die bloßen Fußsohlen), Elektroschocks und Folterungen. Alle inhaftierten Migrant*innen waren Erniedrigungen und religiösen Beleidigungen ausgesetzt. Neun von zehn Migrant*innen haben jemanden sterben sehen, jemanden, der ermordet oder zu Tode gefoltert wurde. Jedoch scheint das die internationale Gemeinschaft nicht zu scheren. „Wenn nämlich der italienisch-libysche Vertrag vom vergangenen Februar die Bekämpfung der Migrationsströme in Richtung Italien und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Migrant*innen vorsah“, erklärt Barbieri, „wird heute sehr deutlich, dass das erste Ziel zwar hartnäckig weiterverfolgt, das zweite aber völlig missachtet wird, und damit Italien und die europäische Union mitverantwortlich sind für die Grausamkeiten, die in Libyen begangen werden.“ Medu zufolge erweisen sich die angeführten humanitären Initiativen „angesichts der Dimension dieser menschlichen Katastrophe als absolut und auf dramatische Weise ungenügend; wie kann man in der Praxis vorgeben, einen Sumpf an Gewalt mit einem Löffel zu leeren.“

Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib