Der Hotspot-Ansatz: vom griechischen Versuchslabor zum neuen EU-Pakt zu Migration und Asyl

Artikel vom 12. April 2022

Meltingpot.org – Auf der Konferenz von Borderline Sicilia wurden die neuesten Veränderungen der Migrationskontrollpolitik analysiert

Die Zusammenkunft wurde von Borderline Siciliaim Rahmen des Projekts EUPAM (EU Pact Asylum and Migration) organisiert. Finanziert wurde sie von der EU-Agentur EACEA, in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Kultur und Gesellschaft der Universität Palermo. Das Treffen war ein wichtiger Moment der Konfrontation über den „Neuen EU-Pakt zu Migration und Asyl“1.

Ein Moment, um über die Aufnahme von Migrant*innen in Italien und Europa nachzudenken, um die Frage nach dem sogenannten „Hotspot-Ansatz“ anzusprechen, sowie zu reflektieren, was in den letzten Jahren, insbesondere in Italien und Griechenland, passiert ist.

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Berichte von Dr. Martina Tazzioli2 und Professor Giuseppe Campesi3. Erstere beschäftigte sich vor allem mit der Frage der biopolitischen Kontrolle des Hotspots im Lichte der Grundsätze des neuen Pakts mit spezifischem Bezug auf die Situation in Griechenland. Letzterer sprach dagegen über den Prozess der Normalisierung des Hotspot-Ansatzes und die Risiken der Umsetzung des neuen Pakts für das italienische System. Die beiden Beiträge sind miteinander verknüpft und nützlich, um die Veränderungen zu verstehen, die in den letzten Jahren bei der Verwaltung der Aufnahmepolitik durch die EU stattgefunden haben.

Beide Wissenschaftler*innen haben die Bedeutung der griechischen Erfahrung für den Prozess der Umgestaltung der europäischen Politik hervorgehoben. Griechenland wurde als reales Versuchslabor für die EU vorgestellt, in dem mehr als in anderen Ländern neue Techniken und Verfahren zur Steuerung der Migrationsströme getestet wurden. Auch der Hotspot-Ansatz, über den in Italien heute so viel gesprochen wird und den man auf alle Grenzgebiete Europas ausweiten möchte, wurde in Griechenland (weiter)entwickelt. Und das nicht nur durch die nationalen Behörden, sondern besonders durch die EU und die europäischen Agenturen, die eine wesentliche Rolle für das aktuell geltende System in dem Land gespielt haben.

Bevor auf die Einzelheiten der beiden Berichte eingegangen wird, lohnt es sich, noch ein Schritt zurückzugehen und den Reformprozess, den Europa im Jahr 2020 beschlossen hat, zu betrachten. Mit diesem wurden eine Reihe von Dokumenten unter dem Namen „Neuer Europäischer Pakt zu Migration und Asyl“ angestoßen.

Der neue europäische Pakt zu Migration und Asyl

Am 23. September 2020 wurde der Pakt offiziell von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen vorgestellt. Es handelt sich dabei um einen Gesetzesvorschlag und eine Reihe von nicht verbindlichen Empfehlungen für die EU-Mitgliedsstaaten zur Regelung von Migrationsphänomenen auf dem europäischen Kontinent.

Das erklärte Ziel der EU ist es, die Ankünfte von Migrant*innen zu reduzieren, sowie mehr Rückführungen durchzuführen. Dies soll durch eine Reihe von Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten koordiniert werden, realisiert werden. „Ein programmatisches Dokument mit einem gesetzgebenden Horizont“4, so bezeichnete es Professorin Chiara Favilli. Sie betonte, dass sofort der Wille sichtbar wurde, die im September vorgelegten Vorschläge mit Hilfe eines präzisen Zeitplans in Rechtsvorschriften umzuwandeln5.

Die wichtigsten vorgesehenen Maßnahmen des neuen Pakts lassen sich zusammenfassen in: 1) Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern zur Eindämmung von Ausreisen und Umsetzung von Rückführungen; 2) Verstärkung der Kontrolle der Außengrenzen; 3) Intensivierung der Rückführungsmaßnahmen und Verbot von Sekundärmigration.

Um ehrlich zu sein, stellen die Bestimmungen des neuen Pakts keine absolute Neuheit in der europäischen Migrationspolitik dar. Vielmehr sind es Maßnahmen, die mit den allgemeinen Grundsätzen übereinstimmen, die Europa in dieser Frage seit langem verfolgt. Allerdings stellen einige der geplanten Maßnahmen eine Verschärfung der bereits bestehenden Maßnahmen dar, während andere dazu dienen, Mechanismen zu perfektionieren, die bereits in den vergangenen Jahren von einzelnen Staaten erprobt wurden. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Externalisierung der Grenzen und der Hotspot-Ansatz, der in Ländern wie Italien und Griechenland so „erfolgreich“ war, von grundlegender Bedeutung.

Letztlich gibt der Neue Pakt die Antwort Europas auf das Migrationsphänomen, das zunehmend als soziales und wirtschaftliches Problem für die einzelnen Staaten angesehen wird. Eine ausgesprochen einschränkende Antwort, die sich an einige klare Grundsätze hält.

Die griechische Erfahrung als Ausgangspunkt für das Verständnis einer neuen europäischen Politik

Um die gemachten Vorschläge des Neuen Pakts wirklich zu verstehen, vor allem solche bezüglich des Screenings bei der Einreise von Migrant*innen, sowie die neuen Verfahrensweisen bei den Rückführungen, ist es sinnvoll, zunächst darauf zu schauen, was in den letzten Jahren in Griechenland geschehen ist. In der Tat diente Griechenland der Europäischen Kommission als Versuchslabor, in dem Praktiken und Verfahren zur Steuerung der Migrationsströme bereits vor der Ausarbeitung des Pakts getestet werden konnten.

In ihrem Beitrag erläuterte Dr. Martina Tazzioli die Veränderungen, die in Griechenland in den letzten Jahren im Hinblick auf die Steuerung der Migrationsströme stattgefunden haben. Dabei hob sie auch einige Unterschiede zu den Ereignissen in Italien hervor. Insbesondere wurde beobachtet, dass mit dem Auftreten der Pandemie die Hotspots (als die physischen Orte, an denen angelandete Migrant*innen festgehalten werden) in Italien als unsicher angesehen und durch die berüchtigten Quarantäneschiffe ersetzt wurden.

In Griechenland hingegen wurde in diese Strukturen eingegriffen, um Orte zu schaffen, an denen die Quarantäne stattfinden konnte. Somit war das Hotspot-System in Griechenland während der gesamten Pandemie weiterhin regelmäßig und mit voller Kapazität in Betrieb. Aber nicht nur das: In den letzten Jahren wurde die Zahl der Personen, die dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Griechenland anvertraut waren, zugunsten einer direkten Verwaltung durch das griechische Ministerium für Einwanderung und Asyl schrittweise reduziert. Die Zahl der Personen, die Anspruch auf pocket money, eine Unterkunft in den Lagern sowie Verpflegung hatte, wurde somit erheblich verringert. Auch wenn diese Verfahren schon seit mindestens 2018 angewandt werden, hat sich die Zahl der Personen, die aus dem Aufnahmesystem für Geflüchtete ausgeschlossen wurden, immer weiter erhöht.

Und mehr noch: Seit September 2021 sind mindestens zwei weitere, miteinander verbundene Phänomene zu beobachten, die das Gesicht der Migrationspolitik in Griechenland verändert haben. Einmal handelt es sich dabei um die Einstufung der Türkei als sicheres Land. Zweitens um den Ausschluss aller Migrant*innen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien, Bangladesch und Somalia, von der Möglichkeit, einen Geflüchteten-Status zu erhalten. Insbesondere war vorgesehen, dass jeder Asylantrag, der von Migrant*innen aus einem der genannten Länder gestellt wird, nach Ermessen der Behörde für unzulässig erklärt werden kann6.

Hinzu kommen die schwerwiegenden bürokratischen/administrativen Schwierigkeiten, die für Migrant*innen Hindernisse für die konkrete Möglichkeit darstellen, einen Asylantrag zu stellen oder gegebenenfalls Einspruch gegen eine Ablehnung zu erheben. Ab Oktober 2021 kam dann noch erschwerend hinzu, dass alle Personen, die noch keinen Asylantrag gestellt hatten oder deren Antrag in erster Instanz abgelehnt worden war, von Zugang zu Wasser und Nahrung in den Lagern ausgeschlossen wurden. Die Folge dieser Entscheidung war eine enorme Verschlechterung der Lebensbedingungen von mindestens 40 % der Geflüchteten in den griechischen Lagern (fast 7.000 Menschen, die dazu gezwungen sind, unter erbärmlichen Bedingungen zu leben). Diese Einschränkungen waren keineswegs zufällig, sondern das Ergebnis eines klaren politischen Willens. Solche Praktiken haben es den Migrant*innen immer mehr erschwert, ihre Rechte geltend zu machen, was offensichtliche Folgen im juristischen Bereich hatte.

Es ist nicht falsch, wie Dr. Tazzioli festzustellen, dass die Pandemie das griechische Aufnahmesystem in der Zeit zurückgeworfen hat. Außerdem hat sie eine zunehmende Abhängigkeit des „griechischen Systems“ vom „europäischen System“ und seinen Agenturen, insbesondere Frontex, verursacht. In Griechenland spielt die Frontex-Agentur eine zentrale Rolle im System der Migrant*innenverwaltung, die zu einem immer „polizeilicher“ werdenden Aufnahmesystems führt. So ist es kein Zufall, dass Asylanträge derzeit entweder innerhalb der Hotspots auf den Inseln oder auf dem Festland gestellt werden können, allerdings direkt in den Polizeistationen mit allen Risiken, die dabei für die Freiheiten der Migrant*innen entstehen.

Die Normalisierung des Hotspots-Systems

Wenn vom Hotspot-Ansatz die Rede ist, bezieht man sich im Falle von Italien auf die Bestimmungen von Art. 10-bis, Gesetzesdekret 286/98 (italienisches Migrationsgesetz). Das Gesetz sieht vor, dass eine Person, die beim unerlaubten Überschreiten der Binnen- oder Außengrenze ausfindig gemacht wird oder nach einer Rettungsaktion auf See in Italien ankommt, zu den so genannten Hotspots (d.h. Erstaufnahmestellen) gebracht wird. Diese Zentren wurden eigens durch das Gesetz Nr. 563/1995 (das so genannte „Apulien-Gesetz„) eingerichtet, welches die Einrichtung von Zentren für die Aufnahme albanischer Migrant*innen vorsah, die zu diesem Zeitpunkt an der Adriaküste ankamen. In diesen Zentren werden Ausländer*innen auch für die Zwecke der EU-Verordnung Nr. 603/2013 (EURODAC7) fotodaktyloskopisch und erkennungsdienstlich erfasst.

Die Kritiken an diesem Ansatz sind zahlreich und so hat auch die europäische Rechtsprechung die Unregelmäßigkeit bestimmter Praktiken sanktioniert. Wie Rechtsanwalt Guido Savio8 richtig bemerkt hat „besteht der kritischste Punkt des Hotspot-Ansatzes in der Tatsache, dass es sich um geschlossene Bereiche handelt, die man nicht verlassen kann. Dies bedeutet, dass die persönliche Freiheit und die Bewegungsfreiheit der dort inhaftierten Personen eingeschränkt werden (…) Es handelt sich also um Situationen, in denen die persönliche Freiheit und die Freizügigkeit ohne rechtliche Grundlage entzogen werden. Damit wird derselbe Sachverhalt wie in Lampedusa im Jahr 2011 wiedergegeben, der den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (in dem bekannten Khlaifia-Urteil, EGMR-Gericht, G.C. 15.12. 2016) dazu veranlasst hat, festzustellen, dass die Inhaftierung von Ausländer*innen in geschlossenen Einrichtungen eine faktische Inhaftierung ohne Rechtsgrundlage darstellt, die gegen Artikel 5, § 1, 2 und 4, EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verstößt. Und das auch, wenn die Inhaftierungen in unmittelbarer Nähe von Rettungsmaßnahmen und in Situationen des außerplanmäßigen Zugangs von Migrant*innen angeordnet wird – wenn kein innerstaatliches Gesetz die Einschränkung der Freiheit in solchen Zentren vorsieht.“

Trotz der aufgezeigten kritischen Aspekte wird der Hotspot-Ansatz nicht nur weiterhin angewandt, sondern hat sich sogar so weit verbreitet, dass er zu einem der wichtigsten Instrumente geworden ist, auf das man sich im Hinblick auf den Neuen Europäischen Pakt konzentrieren sollte.

Aber das ist noch nicht alles. In seiner Analyse hebt Professor Campesi zwei weitere Probleme hervor, die zu Irritation führen und bekämpft werden sollten. Das erste Problem ist die Anwendung einer „fictio iuris„, die es den Staaten erlaubt, ankommende Migrant*innen an Orten festzuhalten, die nicht den normalen Territorialitätsprinzipien der internationalen Normen entsprechen.

Um die Ziele der Kontrolle der Migrationsströme zu erreichen und die damit zusammenhängenden Verfahren, insbesondere die der Rückführung, schneller abzuwickeln, wurde in der Praxis eine „juristische Fiktion“ geschaffen. Diese besteht darin, dass Migrant*innen, die die Grenzverfahren nicht abgeschlossen haben, als Personen betrachtet werden, die das Hoheitsgebiet des Landes, das sie aufnimmt, noch nicht betreten haben. Auf diese Weise wurde eine Art Extraterritorialität dieser Teile des nationalen Hoheitsgebiets geschaffen, die für die Durchführung der Grenzverfahren genutzt werden. Sie ermöglicht es, Migrant*innen von der Einreise in das nationale Hoheitsgebiet auszuschließen, auch wenn sie sich tatsächlich auf dem Gebiet eines bestimmten Staates befinden.

Eine „juristische Fiktion“ mit erheblichen rechtlichen Auswirkungen, insbesondere in Bezug auf den Rechtsstatus, der auf diese Personen angewandt werden kann und auf die Rechte, die ihnen auch nach europäischem Recht zustehen, usw. In diesem extraterritorialen Raum, der in Griechenland aus geografischen und praktischen Gründen mit den Inseln zusammenfällt, finden Grenzverfahren statt, die im Wesentlichen aus dem Screening und einem Asyl- oder Rückführungsverfahren bestehen.

Der zweite Punkt ist die Durchführung einer Reihe von Reformen, die sich auf das System der „Wiederaufnahme“ durch das Land der Ersteinreise auswirken und die Auswirkungen der „Sekundärbewegungen“  auf die Asylsysteme der geografisch weiter von den Außengrenzen entfernten Länder begrenzen sollen.

Schlussfolgerungen

Die Migrationspolitik der einzelnen Staaten und der EU als Ganzes hat sich in den letzten Jahren stark verändert, und der Neue Europäische Pakt zu Migration und Asyl ist nur der Höhepunkt eines langen Prozesses, in dem die griechische Erfahrung ein wahrhaftiges Experiment war.

Das Migrationsmanagementsystem, das mit der Reform der Rückführungsrichtlinie9 teilweise vorweggenommen wurde, zielt auf schnellere Verfahren und die Kontrolle von Migrant*innen in Haftzentren ab. Dazu werden Grenzzonen genutzt, in denen sich die Migrant*innen in einer schwer zu definierenden rechtlichen Situation befinden, einer Art Limbo zwischen Recht und Gesetz. „Die Erfahrungen in Griechenland haben den Inhalt des Europäischen Paktes beeinflusst“ und es ermöglicht, das griechische Modell auf ganz Europa anzuwenden. „Das Modell des Hotspot-Ansatzes in Griechenland hat sich zu einer bewährten Praxis entwickelt, die es zu exportieren gilt“.

 

 

  1. Lesen Sie das Programm der Konferenz (auf Italienisch)
  2. Dozentin für Politik und Technologie an der Universität von London https://www.gold.ac.uk/politics-and-international-relations/staff/tazzioli-martina/
  3. Dozent für Rechtssoziologie an der Universität Bari https://www.uniba.it/ricerca/dipartimenti/scienze-politiche/docenti/prof.-giuseppe-campesi
  4. Der Europäische Pakt zu Migration und Asyl: Es gibt etwas Neues, oder eher etwas Altes“ von Chiara Favilli – Außerordentliche Professorin für Recht der Europäischen Union, Universität Florenz
  5. ebd.
  6. Griechenland, das Ende des Asyls. Reportage aus der griechischen Apartheid von Giulio D’Errico und Giovanni Marenda (Melting Pot, 30. Juli 2021)
  7. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/IT/TXT/HTML/?uri=LEGISSUM:230105_1
  8. https://www.dirittoimmigrazionecittadinanza.it/archivio-saggi-commenti/saggi/fascicolo-n-2-2021-1/761-l-incidenza-delle-misure-di-contrasto-della-pandemia-sulla-condizione-giuridica-dei-migranti-sbarcati-sulle-coste-italiane-il-caso-delle-navi-quarantena/file
  9. Richtlinie 2008/115/EG vom 18. Dezember 2008 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/IT/TXT/HTML/?uri=CELEX:32008L0115&from=IT

 

Anwalt Arturo Raffaele Covella

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura-Lucia Wiese.