Borderline Sicilia klagt an: Verletzung und Missbrauch der Rechte von Migrant*innen in der Provinz Agrigent

Die kürzlich gängig gewordene Praxis der Zurückweisung und Abschiebung von Asylantragsteller*innen nimmt beunruhigende Ausmaße an. Seit September stellt die Quästur von Agrigent zeitversetzte Abschiebeverfügungen an Geflüchtete aus folgenden Ländern aus: Gambia, Senegal, Mali, Elfenbeinküste, Guinea, Nigeria, Ghana, Pakistan, Somalia, Eritrea, Marokko, Tunesien und Ägypten.
Die Gründe dafür sind verschiedene. Im Allgemeinen, wie uns die Stellvertreterin des Präfekten bei ein Treffen in Agrigent am vergangenen 3. Dezember bestätigt (Agrigent: Hunderte von Geflüchteten, darunter Menschen aus Somalia und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, zurückgewiesen und auf der Straße stehen gelassen), werden jene Migrant*innen, für welche kein Platz im Aufnahmesystem zu finden ist, zurückgewiesen und zwar ohne über den Zugang zu internationalem Schutz informiert zu werden.
Außerdem werden solche verzögerten Abschiebeverfügungen systematisch an nordafrikanische Bürger*innen ausgestellt.

Alle Geflüchteten, die eine Abschiebeverfügung erhalten haben, sind an irgendeinem Zeitpunkt im sogenannten Hotspot von Lampedusa gewesen, wo unmittelbar nach ihrer Ankunft die Identifikation durchgeführt wurde und sie einen Fragebogen ausfüllen mussten, ein sogenanntes Informationsblatt, anhand dessen die Polizeibeamten, unterstützt von Frontex-Mitarbeiter*innen, eine erste Auswahl darüber treffen, wer ein*e potentielle*r Asylantragsteller*in ist und wer als „Wirtschaftsflüchtling“ eingestuft wird. Dies geschieht ohne jegliche Informationsvermittlung über das den Geflüchteten zustehende Recht, Asyl zu beantragen, wie dies in Art. 2 des T.U. zu Migration (Migrationsgesetz) sowie in den Art. 10 und 10bis des 25. Dekrets aus dem Jahr 2008 vorgesehen ist. Die Geflüchteten werden dazu aufgefordert, das Dokument, welches in einer ihnen unverständlichen Sprache geschrieben ist, zu unterzeichnen. Es wird ihnen zudem keine Kopie ausgestellt.

Ein zurückgewiesener Ghanaer berichtet seinem Verteidiger als Grund für die Flucht aus seinem Land ethnische Konflikte, seine Beteiligung daran und die daraus resultierende Angst bei einer Rückkehr, angegeben zu haben.

Seit einigen Tagen wissen wir, dass der Mitarbeiter des UNHCR die Informationsvermittlung über das Asylrecht übernimmt – in Form einer kollektiven und mündlichen Erläuterung unmittelbar nach Ankunft der Geflüchteten auf Lampedusa, noch bevor diese die polizeilichen Prozeduren durchlaufen müssen.
Die Geflüchteten, die als potentielle Asylbewerber*innen eingestuft wurden, werden in das „Hub“ in die Villa Sikania (in Siculiana) verlegt, wo sie internationalen Schutz beantragen können.

Das Schicksal derer, die als „Wirtschafsflüchtlinge“ eingestuft wurden, sieht anders aus. Jene Geflüchteten, deren Abschiebung vorgesehen ist, erhalten ihre Ausreiseverfügung an Bord der Fähre von Lampedusa nach Porto Empedocle, wo sie einmal angelandet, am späten Abend von der Polizei in Umgebung des Bahnhofs freigelassen werden. Diese Menschen werden aus dem Aufnahmesystem ausgeschlossen, mangels Platzes in den Schlafsälen nächtigen sie auf der Straße. Sie werden de facto des Rechtsschutzes beraubt. Mittellos und ohne Kenntnisse über nationale und lokale Dienstleistungen können sie keinen Schutz finden. Einige zurückgewiesene Gambier berichten ihren Verteidiger*innen, dass sie auf der Fähre gegenüber den Polizeibeamten, die sie eskortierten, erfolglos den Wunsch geäußert hätten, Asyl zu beantragen. Andere, denen die Abschiebeverfügung mit der Aufschrift: „Weigert sich zu unterschreiben“ überreicht wurde, leugnen sich geweigert zu haben.

Einige Pakistaner, die aus Agrigent gekommen waren, haben sich an die Ausländerbehörde und die Quästur (Ausländerbehörde bei der Polizei) von Palermo sowie an das Kommissariat von Licata gewandt, um dort ihre Asylanträge zu stellen. Die Beamten haben sich jedoch allesamt geweigert, die Anträge zu bearbeiten, da die Antragsteller ja bereits von Agrigent zurückgewiesen worden waren. Der Verteidiger weiterer zurückgewiesener Antragsteller hat über die zertifizierte elektronische Post gesandt, dass seine Klienten den Willen geäußert hatten, Asyl zu beantragen, jedoch ohne je eine Antwort erhalten zu haben.

Desweitern gilt es darauf hinzuweisen, dass unter den zurückgewiesenen Personen verschiedener Nationalität auch besonders schutzbedürftige Menschen sind, wie beispielswiese: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, schwangere Frauen, Schwerkranke, potentielle Asylbewerber*innen, Oper von Gewalt und Folter, die sie entweder in ihren Ursprungsländern oder in Libyen erlitten haben.

Schlussendlich veranlasst die Quästur von Agrigent die Abschiebung aller Geflüchteten, die sich weigern, das Fingerabdruckverfahren zu ihrer Identifikation zu durchlaufen, nachdem sie wochenlang unrechtmäßig im Hotspot von Lampedusa festgehalten worden sind.
Als Folge der zahlreichen Ankünfte der letzten Tage ist auch die Zahle der Zurückweisungen weiterhin steigend.

Wir weisen auch auf eine weitere illegale Praxis der Präfektur von Agrigent hin, welche die Abschiebung, genauer den Zeitraum zwischen dem Erhalt des Ablehnungsbescheids des oder der Asylantragsteller*in und der Anfechtung desselben betrifft. Dies geschieht nur in Fällen, deren Asylgesuche als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurden. In den vergangenen Monaten hat die territoriale Asyllkommission von Agrigent unzählige Ablehnungsbescheide wegen „offensichtlich unbegründeter“ Asylantragsstellung nach Art. 32 Abs. 1, b) bis des 25. Dekrets von 2008, ausgestellt. In Folge der normativen Änderung durch das Dekret Nr. 142 (2015) wurde die Klagefrist auf 15 Tage reduziert – in denen der oder die Asylantragsteller*in unter keinen Umständen abgeschoben werden kann. Solcherlei illegitime Abschiebung – nach italienischem Recht ist jeder und jede Geflüchtete als Asylantragsteller*in zu betrachten und zwar bis zum Ablaufen der Klagefrist und solange keine endgültige Rechtsprechung gesprochen ist – werden Mittel zum Zweck, um Plätze in den Aufnahmezentren zu erhalten und das Recht auf Schutz zu beschneiden. Auf ausdrückliche Anweisung der Präfektur und unter Androhung schwerwiegender administrativer Sanktionen (so wurde es an uns von einigen Mitarbeitern von Zentren aus der Region herangetragen) wurden die Leitungen der Zentren aufgefordert, sofort alle abgelehnten Asylantragsteller*innen des Zentrums zu verweisen.

Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die territoriale Asylkommission in den letzten Monaten auch Asylanträge von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen als „offensichtlich unbegründet“ mit der absurden Begründung, sie würden bald die Volljährigkeit erreichen, abgelehnt hat.

Catania 18.12.15

Rechtsabteilung Verein Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Fanny Rotino