Das Jahr 2013: Katastrophe ohne Ende! Um Menschenrechte ging es nur am Rande.

süddeutsche.de – Als im Oktober vor Lampedusa fast 400 Menschen ertranken, war
Europa erschüttert. Eine Änderung in der Flüchtlingspolitik schien die
einzig richtige Reaktion. Seitdem hat sich viel getan – doch um die
Menschenrechte ging es dabei nur am Rande.

Von Alex Rühle

– In der Nacht auf den 3. Oktober 2013 näherte sich ein alter
Kutter, der drei Tage zuvor in der libyschen Hafenstadt Misrata
aufgebrochen war, dem Hafen von Lampedusa. Auf dem Schiff befanden sich
mehr als 500 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea. Als die Häuser der
Insel in Sichtweite waren, zündeten einige der Flüchtlinge eine Decke
an, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Führerhaus fing Feuer, eines
der Benzinfässer kippte um, Panik brach aus, das Schiff kenterte.

In den Tagen danach flog die europäische Politprominenz auf der
kleinen Mittelmeerinsel ein. Als der EU-Kommissionspräsident José Manuel
Barroso sagte, er werde all diese Toten sein Lebtag nicht vergessen,
waren 200 Ertrunkene geborgen worden.

Als wenige Stunden später der italienische Innenminister Angelino Alfano
rief: „Es muss, muss, muss anders werden“, war die Zahl der Toten auf
280 gestiegen, und das Militär hatte damit begonnen, die Leichen im
Hangar des Flughafens in drei beeindruckend langen Reihen aufzubahren.
Am Ende standen dort

339 Särge, und die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström
erklärte: „Das ist das Bild einer Union, die wir nicht wollen.“ Sie
kündigte die Einsetzung einer Task Force an, die Sofortmaßnahmen
erarbeiten sollte, um derartige Katastrophen in Zukunft zu verhindern.
Kurzum: Für einen Moment klang es tatsächlich so, als ob sich etwas
grundlegend ändern könnte an der europäischen Flüchtlingspolitik.

Es war ja auch ein zutiefst beschämender Moment. Als der hell
brennende Kutter kenterte, war er gerade mal 800 Meter vom Hafen
entfernt, in dem zu dem Zeitpunkt mehrere Boote der italienischen
Küstenwache lagen. In den Stunden danach fuhren mehrere Schiffe an den
Ertrinkenden vorbei oder drehten ab, weil sich in Italien
jeder, der einem Schiffbrüchigen zu Hilfe eilt, der Beihilfe zur
illegalen Einwanderung schuldig macht. Diejenigen Fischer, die sich im
Morgengrauen dennoch trauten, Überlebende auf ihre Schaluppen zu ziehen,
erzählten danach übereinstimmend, die Küstenwache hätte sich geweigert
zu helfen.

Hat sich tatsächlich etwas geändert?

Das Ganze war auch deshalb ein Desaster, weil es den Europäern so drastisch wie selten zuvor vor Augen führte, wie menschenfeindlich mittlerweile die Gesetzgebung ist,
mit denen der Kontinent seine Außengrenzen absichert. Aber es gab eben
auch mehrere Zusagen von höchster Warte aus, dass sich daran nun etwas
ändern würde. Was aber ist seither geschehen? Und wie sehen die
Maßnahmen aus, die die Post-Lampedusa-Taskforce beschloss? Hat sich
tatsächlich irgendwas geändert?

Das kommt darauf an, wo man hinschaut. An den Grenzen Europas
hat sich sehr viel getan seither: Anfang Dezember wurde zur Überwachung
„problematischer Menschenströme“, wie das in Brüssel heißt, Eurosur
eingeführt, das European Border Surveillance System, das mithilfe von
Drohnenkameras, Satellitensuchsystemen und Offshore-Sensoren dazu dienen
soll, Flüchtlinge effizienter zu orten.

Außerdem wurde das Budget der Grenzüberwachungsagentur Frontex um 30 Millionen Euro
angehoben, um Italien zu helfen, seine Grenzen besser zu überwachen.
Bis in jüngster Zeit war die Agentur, die den Auftrag hat, Menschen von
der illegalen Einwanderung in die EU abzuhalten, daran beteiligt,
Flüchtlinge auf hoher See abzufangen und in Drittstaaten
zurückzuschicken. Diese „Push back“-Operationen sind nicht nur nach der
Genfer Flüchtlingskonvention illegal, sondern wurden auch in einem
Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2012 noch einmal als
menschenrechtswidrig verurteilt.

Natodraht für die Exklaven

Die spanische Regierung beschloss im November, seine sechs Meter hohen Grenzzäune um Melilla,
eine der beiden Exklaven auf marokkanischem Boden, mit Natodraht zu
umwickeln. Dieser Stacheldraht ist mit scharfen Klingen und Widerhaken
versehen. Melilla hatte diesen Draht schon einmal um seine Stadtgrenzen
gewickelt. Nachdem mehrere Flüchtlinge daran verblutet waren, wurde er
2007 wieder abgenommen. In der zweiten Exklave, Ceuta, wurde der Zaun
gleichzeitig weit ins Meer hinein verlängert, um Flüchtlinge davon
abzuhalten, vom Strand in Marokko aus auf spanisches Territorium
zu gelangen.

Das war alles? Natürlich nicht. Auf einem Sondergipfel beschlossen die Regierungschefs der EU,
die sich nach der Katastrophe vor Lampedusa „tief bestürzt“ zeigten,
die „tiefer liegenden Ursachen der Migrationsströme anzugehen, indem die
Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern verbessert wird“.

Diese Zusammenarbeit wurde unverzüglich aufgenommen: Mit den
Regierungen von Aserbaidschan und Tunesien wurden Verträge zu einer
sogenannten Mobilitätspartnerschaft unterzeichnet. Außerdem wurde mit
der Türkei ein Abkommen ausgehandelt,
in dem sich die EU verpflichtet, die Visumsbedingungen für Türken zu
erleichtern. Im Gegenzug nimmt die Türkei alle Flüchtlinge zurück, die
über die Türkei nach Europa gelangen. In Brüssel heißt es, die
Flüchtlinge könnten dann ja dort ihren Asylantrag stellen.

Im türkischen Asylsystem dürfen aber prinzipiell nur EU-Bürger
Anträge stellen. Für alle wirklichen Flüchtlinge wird die Türkei, die
mit fast einer Million syrischen Flüchtlingen ohnehin schon finanziell
und logistisch überfordert ist, zur Falle. Die Mobilitätspartnerschaften
sind um keinen Deut besser, der richtig schmutzige Teil der Flüchtlingspolitik
wird dabei jeweils aus Europa ausgelagert, die Außengrenzen und
Transitwege werden dichtgemacht, im Gegenzug wird
Entwicklungshilfe versprochen.

Dass Menschenrechte dabei höchstens zweitrangig sind, zeigt sich
daran, dass ein ähnliches Kooperationsabkommen im Rahmen von Eurosur mit
Libyen vereinbart wurde. Die libysche Regierung soll über
Flüchtlingsboote informiert werden, die in Misrata oder Tobruk in See
stechen, libysches Militär soll die Schiffe dann zurückholen. Libyen hat
nie die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet.

Uneingelöste Versprechen

Es ist dort gängige Praxis, Flüchtlinge weit in die Wüste zu
fahren und irgendwo in den Dünen auszuladen. Der italienische Reporter
Fabrizio Gatti, der auf den Routen der Schwarzafrikaner durch die Sahara
unterwegs war, hat in der libyschen Wüste Flüchtlingscamps gesehen, die
eher Konzentrationslagern gleichen als irgendeinem Auffanglager, das
europäischen Standards entsprechen würde.

Apropos europäische Standards: Nach der Katastrophe
von Lampedusa schauten die europäischen Medien auch im dortigen
Auffanglager vorbei. Dieses Zentrum kann 300 Menschen beherbergen, die
eigentlich sofort aufs Festland gebracht werden sollen. Meist drängen
sich dort aber mehr als 1000 Flüchtlinge, die oft monatelang im Lager
festsitzen und unter freiem Himmel schlafen müssen. Auch hier versprach
der italienische Innenminister damals, im fernen Oktober,
sofortige Verbesserung.

Kurz vor Weihnachten filmte nun ein Mann in ebendiesem Lager, wie
neu eingetroffene Flüchtlinge gezwungen werden, sich in einer Halle des
Lagers vor den Augen des Wachpersonals und einiger Frauen auszuziehen,
um desinfiziert zu werden. Der filmende Flüchtling sagt zu den
Aufnahmen, so werde mit allen Neuankömmlingen verfahren.

Natürlich gibt es ein legitimes Interesse der EU an
Migrationssteuerung. Zumal der politische Druck gleich in zweierlei
Hinsicht zunehmen wird: Zum einen steigen die Flüchtlingszahlen. Der
UNHCR schrieb soeben, dass 2013 so viele Menschen auf der Flucht seien
wie nie zuvor. Zum anderen steht die Europawahl bevor.

Neue Lösungswege? Fehlanzeige

Der italienische Ministerpräsident Enrico Letta warnte vor
einigen Wochen, bei diesen Wahlen werde die EU ihr blaues Wunder
erleben, erstmals würden mehr Europagegner als -befürworter das
europäische Volk repräsentieren. Schaut man sich die Flüchtlingspolitik
an, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die
Rechtspopulisten ihre jeweiligen Regierungen jetzt schon vor sich
herzutreiben scheinen.

Wie sonst ist es zu erklären, dass so gar nicht über andere
Lösungswege in der europäischen Flüchtlingspolitik diskutiert wird, etwa
über humanitäre Visa, wie sie das UN-Flüchtlingswerk seit Längerem
fordert? Die Flüchtlinge müssten sich dann nicht mehr kriminellen
Schlepperbanden anvertrauen.

Warum ist Dublin-II weiterhin sakrosankt, dieser Vertrag,
der besagt, dass jeder Flüchtling nur in dem Land Asyl beantragen darf,
in dem er erstmals europäischen Boden betreten hat? Warum gibt es immer
noch keine gemeinsamen Kriterien für Aufnahme, Anerkennung und
Integration? Und warum traut sich dieser Kontinent trotz des kollektiven
Wissens um die kollektive Überalterung nicht, neue Regeln für die
Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu diskutieren?

Prinzip des „Mare Nostrum“

Der italienische Innenminister Angelino Alfano
übrigens, der auf Lampedusa gefordert hatte, alles müsse, müsse, müsse
anders werden, kündigte fünf Tage nach seiner Rückkehr nach Rom die
Aufrüstung der Küstenwache an: Fünf Kriegsschiffe, ein
Docklandungsschiff, zwei Patrouillenboote, zwei Fregatten, sowie
Langstrecken-Hubschrauber und Drohnen mit optischen und Infrarotkameras
sollten ab sofort all jene abschrecken, „die glauben, dass sie
ungestraft Menschenhandel betreiben können“.

Alfano taufte die Operation „Mare Nostrum“. So nannten die alten
Römer das Mittelmeer: unser Meer. Laut der Menschenrechts-Organisation
„A buon diritto“ kamen zwischen 1988 bis 2013 vor den Küsten Italiens
mehr als 20.000 Flüchtlinge ums Leben. Insofern ist „Mare Nostrum“ ein
treffender Begriff. Es ist unser Meer. Unseres ganz allein. Wehe dem
Fremden, der da eindringt.