Die Geburt der ‚Carta di Lampedusa‘. Eine Erzählung.

In diesen drei Tagen hat Borderline
Sizilien
an der Ausarbeitung des definitiven Entwurfs der Lampedusa Charta
teilgenommen. Dieses Dokument schlägt eine neue Geographie der Freiheit vor und
bekräftigt sie.

Die Arbeit begann am Nachmittag des
31. Januar mit der Präsentation aller Institutionen, die auf die Insel gekommen
sind, um an der Initiative teilzunehmen. Anwesend waren sowohl nationale als
auch internationale Vereinigungen und Gruppen. Als erstes kam die
Bürgermeisterin von Lampedusa zu Wort, gefolgt von der Rede eines Vertreters
der Unternehmervereinigung der Insel und der Gemeinschaft Askavusa.

Ihr Beitrag war wesentlich, um dem
Wunsch, diese Insel sich selbst und seinen Bewohnern zurückzugeben, zu
erwidern. Ein Wunsch, der bereits in der Einleitung der Charta angekündigt
wurde. Diese Insel hat von der aktuellen Migrationspolitik die Funktion von
Ende und Grenze auferlegt bekommen, dient als Ort des gezwungenen Übergangs,
der den Tod tausender Menschen verursachte, welche versuchten die Insel zu
erreichen.

Während die Bürgermeisterin Zweifel
an der Operation Mare Nostrum (Unser Meer) erhob und unterstrich, dass
so die Möglichkeit, eine andere Aufnahme- und Asylpolitik durchzuziehen,
behindert werde, hat die Gemeinschaft Askavusa bekräftigt, dass eine
solche Migrationspolitik ein deutlicher Ausdruck von politischer
Militarisierung sei mit Wirkung auf ganz Sizilien. Zudem stehe diese Politik
auch der Installation des MUOS (Mobile User Objective System,
Satellitenkommunikationssystem der US Navy) bei Niscemi in Verbindung.

Die enge Verbindung zwischen der
Frage der Militarisierung der Grenzen und der Einwanderungspolitik wurde in
diesen drei Tagen immer wieder unterstrichen.

Im Gegensatz dazu hat der Vertreter
der Unternehmervereinigung die Operation als eine Lösung beschrieben, auf die
seit Jahren gewartet wurde, denn dadurch würden die Migranten direkt in die
CARA (Aufnahmezentren für Asylsuchende) überführt, ohne dass mit der Insel
dasselbe geschehe wie in den letzten Jahren.

Der entscheidende Tag für die
Approbation der Lampedusa Charta war Samstag der 1. Februar am späten Abend.
Der Entwurf der Charta – entstanden in einem Prozess gemeinsamen Schreibens, in
den letzten Monaten via Web Konferenz, docuwiki und einer Email-Liste –
wurde Kapitel für Kapitel vorgelesen, analysiert und diskutiert. Es war von
vorn herein klar, dass von einer so umfangreichen wie heterogenen Versammlung
zahlreiche Änderungsvorschläge und Ergänzungen kommen würden und es schwer sein
würde, diese einstimmig zu genehmigen. Aber das Prinzip „wenn jeder von uns
einen Schritt zurück macht, machen wir alle zusammen zehn Schritte nach vorne“
motivierte und ermöglichte die Genehmigung der endgültigen Fassung.

„Die Lampedusa Charta ist eine Vereinbarung zwischen den
unterzeichnenden Parteien. Diese verpflichten sich die in ihr enthaltenen
Prinzipien zu verteidigen sei es im Verhalten, in sprachlichen Formulierungen
wie durch Aktionen, die jeder einzelne
in Gang setzen will.“

Im ersten Teil der Charta werden die
Grundprinzipien dargelegt: persönliche Freiheit, Bewegungsfreiheit, Bleiberecht
und Widerstandsrecht. Im zweiten Teil werden in Widerspruch zur aktuellen
Realität jeneVeränderungen festgehalten, die zur Realisierung der im ersten
Teil formulierten Rechte und Freiheiten nötig sind: Entmilitarisierung der
Grenzen, Abschaffung der Visumbestimmungen, sofortige Schließung aller Zentren
der Verwaltungshaft und Aufnahme-Rückhalte-Strukturen.

Eine Gruppe Mütter aus Lampedusa
eröffnete mit ihrem Aufruf, gleiche Rechte für alle, die Versammlung am
Sonntag. Dabei hoben sie hervor, wie das Fehlen eines wesentlichen Dienstes,
des Gesundheitsdienstes, sich auf das Schicksal der Menschen auswirke, die auf
ihrer Insel „weder geboren werden noch sterben können“, weil es kein
Krankenhaus gibt. Sie sprachen über die Unbequemlichkeiten ihrer Kinder, die
auf Grund der mangelhaften schulischen Infrastruktur gezwungen sind in
Turnussen zum Unterricht zu erscheinen und vor allem, die sich dann in einer
Struktur aufhalten deren Nutzung nicht einmal sicher ist.

Darauf folgte der Bericht des
Vertreters der Vereinigung „La Terre pour tout“, der vom Drama der Familien der
vermissten Tunesier erzählte und der sich von der Lampedusa Charta erhofft,
dass sie die Zusammenarbeit zwischen allen Mittelmeerländern ins Leben rufen
kann, um weitere Tragödien auf dem Meer zu verhindern. Dazu lädt er alle
Anwesenden ein, sich nach Tunesien zu begeben.

An diesem Punkt begannen die
Stellungsnahmen der verschiedenen Gruppen, welche nicht nur ihre eigenen
Erfahrungen in den jeweiligen Bereichen und Gebieten einbrachten, sondern auch
verschiedene konkrete Vorschläge machten, mit denen die Inhalte der Charta in
kurzer Zeit realisiert werden könnten, darunter: allgemeine
Mobilisierung für die Schließung der Verwaltungshaftzentren in ganz Europa,
„Karawanen“ auf bedeutenden Abschnitten der Migrationsroute von Afrika nach
Europa und in tunesischen wie auch libanesischen Flüchtlingslagern, Umwandlung
des docuwiki in einen Blog, der allen zugänglich ist.

Die Endfassung der Lampedusa Charta
ist bereits auf Carta di Lampedusa einsehbar, die Unterzeichnung ist
für einzelne wie auch für Vereinigungen möglich.

Aus Lampedusa,
Elio Tozzi und Giovanna Vaccaro

Die Redaktion von Borderline Sizilien

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner