Flüchtlinge vor Lampedusa: Vergebliche Hilferufe und 250 Tote

Thomas Schmidt/fr – Die Schiffskatastrophe vor Lampedusa, bei der am 3.
Oktober 366 Flüchtlinge – vorwiegend aus Eritrea und Somalia –
ertranken, löste weithin Entsetzen aus. Als acht Tage später vor der
italienischen Insel wieder ein Schiff sank und mehr als 250 Menschen –
fast alle aus Syrien – ihr Leben verloren, wurde dies in der
Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen.

Recherchen des italienischen
Journalisten Fabrizio Gatti und der Nichtregierungsorganisation „Watch
the Med“ (Überwache das Mittelmeer) belegen, dass die Opfer dieser
zweiten Katastrophe hätten gerettet werden können. Doch statt Hilfe zu
leisten, hat die italienische Seenotrettung den Fall einfach an Malta
überwiesen.

Das Drama nahm seinen Anfang in
Libyen. Am 11. Oktober um ein Uhr morgens verließ ein Fischkutter mit
rund 480 Flüchtlingen an Bord den Hafen von Suara, einer Stadt 100
Kilometer westlich von Tripolis. Um 3 Uhr früh tauchte ein
Patrouillenboot einer libyschen Miliz auf, das den Fischkutter mehrfach
beschoss, bevor es um 6 Uhr abdrehte. Mindestens zwei Flüchtlinge wurden
verletzt.

Niemand fühlte sich zuständig

Um
10 Uhr drang Wasser durch die defekte Wand ins Boot ein. Kurz vor 11
Uhr stieg der Bootsführer, ein 21-jähriger Tunesier, aufs Dach der
Brücke und rief nach einer Person, die des Englischen mächtig sei und um
Hilfe rufen könne. Es meldete sich der syrische Arzt Mohanad Jammo. Der
Bootsführer reichte ihm das Satellitentelefon. Die Nummer der
italienischen Seenotrettung hatte die Frau des Arztes vorsorglich in
ihrem Smartphone abgespeichert.

Um 11 Uhr schrie Jammo ins Telefon: „Wir sind auf
einem Boot mitten im Meer, wir sind alles Syrer. Viele von uns sind
Ärzte. Das Boot geht unter!“ Auf der anderen Seite meldete sich eine
Frau. Sie bat ihn um die genauen geografischen Koordinaten. Jammo
kontrollierte die GPS-Angaben von drei Smartphones und diejenigen des
GPS-Geräts des Bootes. Die Angaben stimmten überein. Er gab sie durch.

Doch
es passierte nichts. Gegen 12.30 Uhr rief Jammo ein zweites Mal an. Auf
der anderen Seite sagte dieselbe Frau nur: „Ok, ok, ok.“ Das war alles.
Als der Arzt um 13 Uhr zum dritten Mal dieselbe Nummer anrief,
antwortete ein Mann und gab ihm Bescheid, für das Gebiet, in dem sich
das Boot befinde, sei Malta zuständig. Er gab ihm die Nummer der
Malteser Marine durch. Jammo rief in Malta an. Vier Stunden danach, um
17.10 Uhr, sank das Boot. Als ein maltesisches Flugzeug um 17.20 Uhr
Schwimmwesten und Schlauchboote abwarf, schwammen schon viele
Flüchtlinge im Wasser.

Jedes Schiff ist zur Rettung aus Seenot verpflichtet

Soweit
der Bericht Jammos. Er, seine Frau und die jüngste Tochter waren unter
den 212 Flüchtlingen, die gerettet werden konnten. Doch er verlor zwei
Söhne. Jammo wurde von Fabrizio Gatti, Chefreporter des italienischen
Nachrichtenmagazins „L’Espresso“, interviewt. Gatti ist mit der Materie
vertraut. Als Flüchtling verkleidet, reiste er selbst übers Mittelmeer
und strandete in Lampedusa. Sein Buch darüber ist auch auf Deutsch
erschienen. Zwei weitere Ärzte bestätigten Jammos Schilderung bis ins
Detail.

Felice Angrisano, Admiral der Küstenwache
von Lampedusa, widerspricht dem Bericht Jammos nur in einem Punkt. Der
erste Anruf der Flüchtlinge, gibt er an, sei erst um 12.26 Uhr
eingetroffen. Um 12.39 Uhr habe der Syrer wieder angerufen, das Gespräch
habe 17 Minuten gedauert.

Rechercheure von „Watch
the Med“ haben Daten des Funksystems AIS (Automatic Identification
System) ausgewertet, das bei der Internationalen
Seeschiffahrtsorganisation (IMO) als verbindlicher Standard gilt. Aus
ihnen geht klar hervor, dass das Schiff der Syrer nur 130 Kilometer von
der Küste Lampedusas, aber 230 Kilometer von der Küste Maltas entfernt
war, als es sank. Die formelle Zuständigkeit für die Rettung
Schiffbrüchiger am Unglücksort liegt zwar bei Malta, zu dessen Such- und
Rettungszone (SAR) dieses Seegebiet gehört. Zur Rettung aus Seenot ist
aber jedes Schiff, das tatsächlich helfen kann, nach internationalem
Recht verpflichtet.

Handelsschiff hatte Unglücksboot auf Radar

Der
Admiral der Küstenwache bestätigt in einem Schreiben an „L’Espresso“,
dass um 13.05 Uhr die Malteser „die Leitung der Koordinierung der Such-
und Rettungsoperationen“ übernommen hätten. Danach taten die Italiener
erst mal gar nichts, wie das Magazin aufzeigt. Die Leitstelle zur
Koordination der Seenotrettung (MRCC) in Rom setzte lediglich um 13.34
Uhr einen Funkspruch ab, gab die Koordinaten der Unglücksstelle eines
„gekenterten Boots mit 250 Personen an Bord, das um Hilfe bittet“,
durch, und ersuchte „Schiffe, die sich in der Nähe befinden, wenn
möglich, Hilfe zu leisten“.

Admiral Angrisano
bestätigte, dass sich zu dieser Zeit zwei Handelsschifffe sowie ein
italienisches Kriegsschiff in der Nähe befanden. Die Handelsschiffe
„Stadt Bremerhaven“ und „Tyrusland“ – das eine fuhr unter britischer
Flagge, das andere unter jener der Marshallinseln – waren 40
beziehungsweise 110 Kilometer vom Flüchtlingsboot entfernt, die „Libra“,
das mit Hubschraubern bestückte Kriegsschiff, 48 Kilometer. Ihr
Kommandant muss das Unglücksboot auf dem Radar gehabt haben.

Niemand wollte Flüchtlinge haben

Erst
um 17.07 baten laut der Römer Leitstelle MRCC die Malteser die
Italiener um Unterstützung. Um 17.14 machte sich die „Libra“ zum
Unglücksort auf. Da war das Boot bereits gesunken. Da war das
maltesische Flugzeug mit den Schwimmwesten und Schlauchbooten bereits im
Anflug. Um 17.51 Uhr traf das erste Hilfsschiff ein, ein maltesisches
Patrouillenboot.

Selbst wenn der syrische Arzt,
nicht, wie er selbst angibt, schon um 11 Uhr per Satellitentelefon um
Hilfe gebeten hat, sondern erst um 12.26 Uhr, wie die Küstenwache
behauptet, so steht doch fest: Die „Libra“, die mit einer
Maximalgeschwindigkeit von 37 Stundenkilometern fahren kann, hätte keine
anderthalb Stunden zum Unglücksort gebraucht. Wäre sie sofort nach dem
Funkruf der Leitstelle gestartet, sie hätte um 15 Uhr vor Ort sein
können – zwei Stunden bevor das Boot sank. Auch die Patrouillenboote der
Küstenwache in Lampedusa hätten zwischen 14.30 und 15 Uhr eintreffen
können, wenn sie losgeschickt worden wären.

Es
spricht alles dafür, dass die Querelen um die Zuständigkeit für die
Rettung mehr als 250 Menschen das Leben gekostet haben. Wer die
Flüchtlinge aus dem Wasser fischt, muss sie ja auch in einen sicheren
Hafen bringen. Vermutlich wollte sie einfach niemand haben.