Tagebuch auf Lampedusa[InFestival]: Aufruf für ein „Alternatives Alarmnetzwerk“

Heute um
16.30 Uhr stellt Judith Gleitze von borderline-europe, Menschenrechte ohneGrenzen e.V. in der Area Marina Protetta, im Zuge des Filmfestivals
LampedusaInFestival“, das „Alternative Alarmnetzwerk“ vor. In Zukunft soll damit Migrant_innen
in Seenot, mithilfe der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteur_innen, in Echt-Zeit geholfen
werden.

11. Oktober
2013: Geflüchtete auf einem sinkenden Schiff versuchen via Satellitentelefon
wieder und wieder einen Notruf an die italienische Küstenwache abzusetzen, aber
ihr Hilfeersuchen wird nicht ernst genommen. Auf dem Boot in Not, dass in der
Nacht zuvor von einem libyschen Schiff beschossen wurde, befanden sich mehr als
400 Menschen. Obwohl rechtzeitig zuerst die italienische, und später die
maltesische Küstenwache, über die bevorstehende Notlage der Menschen alarmiert
wurde, kamen die Rettungsmaßnahmen einige Stunden zu spät und die Rettungsboote
kamen erst eine Stunde nachdem das Flüchtlingsboot bereits gesunken war. Mehr
als 200 Menschen mussten sterben, nur 212 Menschen konnten gerettet werden.

Was wäre
passiert, wenn die Geflüchteten, zusätzlich zu dem Notruf an die
Küstenwache(n), einen zweiten Notruf an eine unabhängige Not-Hotline hätten
absenden können, an ein ziviles Netzwerk, das direkt hätte Druck auf die
Behörden ausüben können?

Ein Jahr
nach dem 3. Oktober und dem oben beschriebenen „left-to-die-case“, ist die
Situation nicht weniger dramatisch. Auch wenn die italienische Militäroperation
„Mare Nostrum“ in den letzten elf Monaten offiziell bereits mehr als 100.000
Migrant_innen gerettet hat sind, nur auf dem Mittelmeer und im gleichen
Zeitraum, trotzdem mehr als 1300 Menschen gestorben und wurden so Opfer des
europäischen Grenzregimes. Zu Beginn des Jahres 2014 wurden wir Zeugen von
weiteren Toten an den exterritorialisierten EU-Grenzen: Am 20. Januar starben
12 Flüchtende, als ihr Boot unterging, während sie von einem
Hochgeschwindigkeitsboot der griechischen Küstenwache gezogen wurden, um so an
die türkische Küste zurückgebracht/absgeschoben zu werden.

Am 6.
Februar 2014 beschossen spanische Grenzwächter_innen schwimmende Migrant_innen
mit Plastikpatronen, die versuchten die spanische Enklave Ceuta zu erreichen.
Mehr als 14 Menschen mussten in Folge dessen sterben.

Das sind
keine Einzelfälle aber einige der offensichtlichsten unter vielen ähnlichen
tödlichen Gewaltaktionen gegen Migrant_innen im Mittelmeer. Wären diese
Vorfälle passiert, wenn die Zivilgesellschaft informiert gewesen wäre und Druck
auf die Behörden und Autoritäten ausgeübt hätte, bevor es dazu kommen konnte
und nicht erst danach, als es schon zu spät war?

Wir können
nicht länger ertragen hilflos zuzusehen, während sich Tragödien wie diese wieder
und wieder zutragen. Wir möchten mehr tun, als diese Gewalttaten zu
verurteilen, nachdem sie sich zugetragen haben. Wir glauben, dass ein Alternatives
Alarmnetzwerk (AAN),
etabliert durch die Zivilgesellschaft auf beiden
Seiten des Mittelmeeres (sowohl auf nordafrikanischer als auch europäischer
Seite), etwas verändern könnte.

Weder
verfügen wir über kein Rettungsteam, noch können wir direkten Schutz anbieten.
Wir sind uns über unsere begrenzten Mittel bewusst und über den provisorischen
und begrenzten Charakter unserer Initiative. Aber wir möchten sofort Alarm
schlagen, wenn Geflüchtete und Migrant_innen in Notsituationen auf dem
(Mittel-)Meer geraten und nicht sofort gerettet werden. Wir möchten in
Echt-Zeit dokumentieren und unmittelbar einschreiten, wenn Menschen Opfer von
„Push-Back-Operationen“ werden oder abgeschoben werden in Länder wie Libyen, wo
Migrant_innen alsbald Opfer von Gewalt und Folter werden. Wir wollen uns
einmischen und politischen Druck ausüben, die Gesellschaft mobilisieren gegen
das tägliche Unrecht an den EU-Außengrenzen.

Wir wissen,
dass dieser Druck effektiv sein kann, da es bereits viele individuelle Akteure
gibt, die seit Jahren alarmiert werden, in Fällen, wenn Familienangehörige
wissen, dass sich Verwandte oder Bekannte auf dem Weg nach Europa befinden oder
die Migrant_innen auf Hoher See direkt einen Notruf an diese bekannten
Einzelpersonen absenden. Es hat sich als effektiv erwiesen, wenn diese
Einzelpersonen in diesen Fällen Druck auf die Behörden ausüben, da sie darüber
kontrollieren konnten, ob Rettungsmaßnahmen ergriffen wurden.

Wir möchten
das „Alternative Alarmnetzwerk“ ausweiten und seine politische Rolle stärken,
um Migrant_innen zu unterstützen und das Recht auf Bewegungsfreiheit zu bekräftigen.

Deswegen
versuchen wir – in enger Zusammenarbeit mit dem Monitoringprojekt „Watch The
Med“ – ein alternatives Alarmtelefon zu etablieren, das ab dem 10. Oktober 2014
tagtäglich, 24/7 erreichbar ist. Organisiert wird das Netzwerk von
Menschenrechtsaktivist_innen auf beiden Seiten des Mittelmeeres (Nordafrika und
Europa), von mehrsprachigen Teams.

Wir werden
allen Menschen in Seenot zuerst raten die offiziellen Rettungsstellen zu
alarmieren, wie z.B. die Küstenwachen der EU-Länder mit Außengrenzen. Aber wir
werden auch persönlich die jeweils verantwortliche Küstenwache informieren, sie
auf ihre Verantwortung aufmerksam machen und sie wissen lassen, dass wir
informiert sind und ihr weiteres Vorgehen beobachten können. Wenn sie nicht
reagieren werden wir alles in Bewegung setzen, um politischen und öffentlichen
Druck auf sie auszuüben.

Wir werden
Kapitäne von Frachtschiffen informieren, die sich in der Nähe der sich in Not
befindenden Menschen aufhalten. Wir werden Journalist_innen alarmieren, Menschen
aus Politik und Kirche und gesellschaftlich bekannte Persönlichkeiten, die uns
unterstützen.

Wir werden
die „Kritische-Netzwerk-Community“ informieren und nutzen, um
Echt-Zeit-Kampagnen zu starten und jeden dazu aufrufen zu intervenieren.

Die
„left-to-die“ Vorfälle, die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen durch
FRONTEX und die Küstenwachen im Mittelmeer müssen sofort gestoppt werden. Wir
brauchen ein zivilgesellschaftliches Netzwerk, und wir wollen Teil dieses
Netzwerkes sein, das auf beiden Seiten des Mittelmeeres politischen Druck
ausüben kann – für das Leben und die Rechte von Geflüchteten.

Ein solches
Netzwerk wäre ein erster und notwendiger Schritt auf dem Weg zu
einem europäischen Mittelmeerraum der nicht von einem tödlichen Grenzregime
gezeichnet ist, sondern von SOLIDARITÄT, dem RECHT AUF SCHUTZ und dem RECHT AUF
BEWEGUNGSFREIHEIT!!!

Mehr
Informationen und wie du Teil des Netzwerkes werden kannst erfährst du unter:

www.watchthemet.net

Kontakt:

info@watchthemed.net

Eine
Initiative von:

Welcome to
Europe, Afrique Europa Interact, borderline-europe, Noborders Morocco,
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Voix des Migrantes

Text//Übersetzung: Alexa Magsaam, borderline-europe

Fotos: Watch The Med