In den Zentren für Aufnahme und Integration: eine neue Grenze der „Rechte auf dem Abstieg“?

Artikel vom 30. Juni 2022

Das SAI*-Zentrum in San Giuseppe Jato in der Provinz Palermo wird durch die Kooperative La Fenice betrieben. Es befindet sich außerhalb des bewohnten Ortskerns, hinter einem Supermarkt und der Hauptstraße nach Palermo.

Das große Gebäude steht am Ende einer steinigen, steilen Straße. Es ist von Feldern und Gebüsch umgeben. Die Mitarbeitenden erzählen uns, dass sich der Postbote weigere, diesen Weg zu nehmen. Einer der Bewohner*innen warte daher seit Monaten vergeblich auf seine Krankenversicherungskarte. Diesen ersten Eindruck von Abgeschiedenheit verbinden wir in unserer Erfahrung eher mit einem außerordentlichen Aufnahmezentrum (der Erstaufnahme), als mit einer Einrichtung, die im Zuge des neuen Systems für die Aufnahme und Integration (SAI*) geschaffen worden ist.

 Die Kritikpunkte der Bewohner*innen

Während unseres von den Verantwortlichen des Zentrums genehmigten Besuchs haben wir mit manchen Bewohner*innen sprechen können. Sie berichten über wiederholt vorkommende Verletzungen ihrer Rechte in Italien und dies auch innerhalb der Aufnahmestrukturen. Einige von ihnen berichten, dass sie sich seit Jahren in Italien aufhalten (einer von ihnen gar seit sechs Jahren), ohne je eine feste Aufnahmeerlaubnis erhalten zu haben. Sie sind darum noch immer von einem Aufnahmesystem abhängig, das Ungerechtigkeit und die Verweigerung der elementarsten Rechte eher zu erzeugen als zu verhindern scheint.

Die Bewohner*innen berichten, dass sie „gezwungen“ seien, zu arbeiten, meistens in der Landwirtschaft, denn: „alle brauchen Geld“ und das auch, weil sie ihr letztes Taschengeld, pocket money, im Februar erhalten hatten. Außer diesem Taschengeld wären 24,50 Euro pro Woche für ihre Verpflegung und die Körperpflege vorgesehen. Dieses Geld wird ihnen zwar rechtzeitig ausbezahlt, es genüge aber nicht, um ihre wöchentlichen Ausgaben zu decken. Kleider haben sie noch keine erhalten. Daher müssten sie Geld dafür und auch für Medikamente zur Seite legen. „Wie sollen wir das machen?“, fragen sie uns.

Sie berichten uns, wie schwierig es sei, einen regulären Arbeitsvertrag zu bekommen. In diesem Zusammenhang klingen die Erklärungen des Rechtsberaters – von dem die Mitarbeiter*innen des Zentrums sagen, dass er jeden Samstag komme, den die Bewohner*innen aber seit Wochen nicht mehr gesehen haben – über die Rechte der Arbeitnehmer*innen oder dass „man nicht illegal arbeiten muss“, fast paradox.

Auch wenn für sie der Erhalt von Ausweispapieren und die Notwendigkeit eines Einkommens an erster Stelle stehen, äußern sie ihre Frustration über die Verhältnisse in dieser Unterkunft, über die mangelnde Kommunikation mit den Verantwortlichen und die nicht vorhandenen Sprachkurse. Der letzte Kurs endete im Februar und seither gab es keine weiteren Sprachkurse mehr. Obwohl uns die Betreibenden versichern, dass während der Covid-19 Pandemie die infizierten Bewohner*innen von den anderen isoliert waren, erzählen uns die Menschen, mit denen wir sprachen, dass es zu Promiskuität kam und dass sie sogar das Bad teilen mussten.

Es herrscht ein offensichtlicher Mangel an Vertrauen und an Kommunikation zwischen manchen Bewohner*innen und den Mitarbeitenden: die misstrauischen unter Ersteren erzählen, dass nur vor Inspektionen geputzt werde, dass das Zentrum normalerweise nicht so gepflegt und sauber sei, wie wir es gesehen haben, und dass sie meist selbst für Sauberkeit und Ordnung sorgten. Tatsächlich ist das Haus in keinem guten Zustand: eine Dusche funktioniert nicht, Reparaturen in einem Badezimmer waren nicht fertiggestellt und es war nicht ganz sauber. Einige berichten, dass von ihnen gemeldete Probleme in wenigen Tagen durch die Verantwortlichen gelöst würden. Andere beklagen sich: „Ich wende mich an sie, wenn es mir schlecht geht, aber sie hören mir nicht zu. Ich fühle mich diskriminiert.“ Manche sagen, es nütze absolut nichts, etwas zu melden, das falsch läuft, denn das bringe sowieso nichts.

Während unseres Besuches, kurz nach elf Uhr morgens, schlafen viele der Bewohner*innen noch. Sie seien müde und antriebslos durch den Mangel an Aktivität und Lebensenergie. „Wir hatten Probleme in unserem Land, wir sind vor Kriegen geflohen, dann die Flucht aus Libyen, und jetzt Sizilien, müssen wir wieder fliehen?“

Die Reaktion der Mitarbeitenden

Diese Kritikpunkte haben wir den Verantwortlichen der Aufnahmestruktur dargelegt. Sie meinten dazu: „Aus bürokratischer Sicht tun wir unser Möglichstes“.

Die Betreiber beschuldigten jedoch das Ministerium und die Kommune, jene Behörden, die für die Finanzierung der Zentren und deren Betrieb verantwortlich sind, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen. Sie berichten, dass sie auf Geldmittel warten, um vorgesehene Projekte in die Wege leiten zu können. Dieselbe Begründung wird geäußert, wenn es darum geht, warum einige der Bewohner*innen, die ein Praktikum in örtlichen Landwirtschaftsbetrieben absolviert haben, immer noch auf ihr letztes Monatsgehalt warten (sechs Monate nach dessen Abschluss) und warum auch das Taschengeld stets mit Verspätung ausbezahlt wird. „Was sollen wir tun, wenn das Geld nicht ankommt? Unsere Kooperative leistet bereits oft Vorschüsse“, bekräftigen sie. Zudem würden Mitarbeitende selbst nicht zeitgerecht bezahlt. Die jeweils verspäteten Überweisungen der Geldmittel durch das Ministerium sei ein immenses Problem für das reibungslose Funktionieren des Aufnahmesystems. Davon sind sowohl die Mitarbeitenden, die nicht entlohnt werden, als auch die Bewohner*innen, die keine Leistungen erhalten, betroffen.

Auch die Mitarbeitenden beklagen sich über die Bewohner*innen. Als wir wissen wollen, wie sie auf die Bemängelungen wegen des schlechten Zustandes der Einrichtungen reagieren, meinen sie: „Wir kehren den Spieß um, weil sie chaotisch sind“. Sie sind der Meinung, dass es die Bewohner*innen seien, die das Zentrum nicht reinigten und pflegten. Oft werden die Bewohner*innen von den Mitarbeitenden in infantilisierender Weise beschrieben – wie Kinder, die erzogen werden müssten, statt als erwachsene Menschen, die sich ihrer Rechte bewusst sind. Zum Beispiel nennen sie sie „unsere Jungs“, als ob das Zentrum eine Familie wäre mit den Mitarbeitenden als Eltern und den Bewohner*innen als Kinder. Sie berichten, dass sie den Bewohner*innen kein Geld mehr für den Bus nach Palermo geben, um ein Erwachsenenbildunsgzentrum zu besuchen, nachdem sie gemerkt hätten, dass einige von ihnen nicht zum Unterricht gingen, sondern sich in der Stadt anderweitig beschäftigten.

Diese Denkweise wird von den Bewohner*innen natürlich wahrgenommen. Sie sagen, dass sie entweder „wie Kinder“ oder wie „Tiere“ behandelt werden. Aber wir sind „erwachsene Menschen“, betonen sie, und „wir kennen unsere Rechte“.

Unser Besuch fördert die besorgniserregende Tatsache zu Tage, dass die zuletzt geschaffenen SAI-Zentren im Grunde mit den CAS*, den außerordentlichen Aufnahmezentren der Präfekturen, vergleichbar sind. Denn die Bewohner*innen sprechen über Missstände und Probleme, die wir sonst aus den anderen Zentren kennen: keine Aktivitäten, keine Ausbildungen, Isolation bis zu dem Punkt, an dem sich sie Bewohner*innen fragen, was sie in Sizilien überhaupt machen.

 

Redaktion Borderline Sicilia

 

*SAI: Sistema di accoglienza e integrazione – Allgemeines Aufnahme- und Integrationssystem

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Susanne Privitera