Ali und die weiteren angekündigten Toten

Ein anderer Jahresanfang wäre besser gewesen. Gern hätten wir die Möglichkeit gehabt, Ali zu umarmen und zu empfangen, aber es war nicht möglich. Gerne hätten wir nicht zum hundertsten Mal schreiben müssen, dass unsere Politik auch in diesem Jahr weiterhin tötet, in Komplizenschaft mit einem Journalismus, der die Erklärungen der Politiker kritiklos wiedergibt. Denn in den Zeitungen erscheinen nicht einmal die Schatten eines Ali oder so vieler anderer.

Für all diejenigen, die lieber die Meldung über die verrückte Nacht des AS Rom-Spielers oder über das Buch über Trump auf der ersten Seite brachten, existiert Ali nicht. Ali hätte jedoch mehr Raum verdient. Nein, besser noch, Ali hätte es verdient, unbemerkt zu bleiben, weil er lebt.
Nur wegen einiger Leute, die noch einen Sinn für Gerechtigkeit haben, konnten wir Ali kennenlernen und erfahren, dass er – ein junger Tunesier von 29 Jahren – in den Selbstmord getrieben wurde, da er nicht als Flüchtling aufgenommen wurde. Seit Monaten werden Tunesier, die in Lampedusa ankommen, wieder in ihre Heimat zurückgeführt oder nach Sizilien gebracht und systematisch ausgewiesen. So haben viele begonnen, aus dem Hotspot zu fliehen aus Angst, wieder zurück in ihr altes höllisches Leben gebracht zu werden, und sie versuchen, die Insel irgendwie zu verlassen.
Seit Ende Oktober befand sich Ali in Lampedusa und die Zeitungen hätten in Riesenlettern schreiben müssen, dass es eine enorme Verletzung des Gesetzes ist, wenn man Tag für Tag seiner persönlichen Freiheit beraubt wird, ohne jede richterliche Intervention. Ali war nicht verrückt, aus den Berichten derer, die ihn auf der Insel kennengelernt hatten, wird deutlich, dass er Angst hatte, dass er nicht zurück wollte, dass er seine Angehörigen nicht enttäuschen wollte, dass er leben wollte. Zusammen mit anderen hatte er beschlossen, aus dem Hotspot wegzugehen und unterzutauchen. Aber es gelang ihm nicht, unter dieser Bedingung zu leben und so ist er zusammengebrochen, nach und nach. Seine Verletzlichkeit und seine Pflegebedürftigkeit waren unübersehbar. Aber dieses System ist nicht für die besonders Schutzbedürftigen und die am meisten Zuwendung brauchen gemacht. Wie viele andere brachte sich Ali um, da er unsichtbar war, krank, müde. Ein weiteres Opfer des Hotspot-Systems, ein weiteres Opfer der institutionellen Gleichgültigkeit, ein weiteres Opfer dieses Europa.
Leider ist Ali nicht das einzige Opfer dieses Jahresanfangs: außer ihm sind mindestens 64 Personen beim ersten Schiffbruch des Jahres 2018 vor Libyen umgekommen. Die Leichen von sechs Frauen und zwei Männern wurden am 8. Januar vom Schiff Diciotti nach Catania gebracht, zusammen mit 86 Überlebenden. Und gestern kamen weitere 27 Überlebende, die vom Schiff Aquarius von SOS Mediterranee gerettet wurden, in Pozzallo an Land.
Wie immer bekommen die Toten den letzten Gruß und das letzte Geleit von eben jenen politischen Vertretern, die für diese Todesfälle verantwortlich sind und die dann die immer gleichen und banalen Absichtserklärungen voll reinen Herzens von sich geben. Aber die italienischen Journalisten füllen seitenweise Blätter mit den Protesten der Migrant*innen in den Aufnahmezentren und stellen dabei die Belanglosigkeit der Motive dieser undankbaren Menschen heraus. Im Moment folgt eine Meldung auf die andere über die Proteste in Naro, Agrigento, Castelvetrano und Mazara und auch in Isnello und Borgetto. Kein einziger Journalist fragt nach dem wirklichen Grund für die Proteste, keiner fragt sich, in wieweit die zuständigen Ämter in diesen Regionen darin verwickelt sind und nie wird die Stimme der Migrant*innen ebenso gehört.
Täglich erhalten wir Zeugnisse von Situationen, in denen Migrant*innen vernachlässigt werden, von Nachlässigkeit und schlechter Aufnahme, was wiederum zu Protesten führt. Und zahlreiche Kooperativen, die die CAS verwalten, weisen uns auf die Schwierigkeit hin, dass dort besonders Schutzbedürftige verwaltet werden, die besser in einem SPRAR untergebracht wären. Aber die Wartezeiten sind sehr lang und viele beklagen sich über die mangelnde Aufmerksamkeit seitens des Sozialdienstes.
Einige Bewohner von Lampedusa haben neulich abends mit jungen Tunesiern für Ali und seine Familie gebetet und daran erinnert, wer er war: ein junger 29-jähriger Mann, der Freiheit, Zukunft wollte und der nur weiter träumen wollte, obwohl das für viele verboten ist.
Leb wohl Ali, wir wünschen dir eine gute Reise dorthin, wo du nie mehr auf Peiniger oder Grenzen stoßen wirst.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib