Die Aufnahmepolitik ist am Ende

Die Politik unseres Landes ist im permanenten Wahlkampfmodus. Die letzten Wahlen haben eine Zunahme von Falschaussagen bar aller objektiven Daten hervorgebracht – und das in einem vergifteten politischen Klima. Die Webseite MissingMigrants spricht Klartext: wir verzeichnen eine drastische Abnahme der Anlandungen bei gleichbleibender Zahl von Toten wie im letzten Jahr. Diese Zahlen berücksichtigen die Toten in Libyen nicht, darunter sind die Menschen, die von der libyschen Küstenwache nach ihrer Flucht aus Libyen zurückgeführt werden. Es fehlen auch jene Ertrunkenen im Mittelmeer, von denen wir nie erfahren werden. Denn ohne die Nichtregierungsorganisationen gibt es keine Zeug*innen mehr für das Blutbad im Mittelmeer. Das altbekannte Lied „helfen wir ihnen in ihrem eigenen Land“ wäre weniger erfolgreich, wenn endlich darüber informiert würde, dass im Gegenteil die Mittel für die internationale Zusammenarbeit gekürzt und vor allem verschoben wurden, nämlich in die exterritoriale Verlegung der Grenzkontrollen. Damit wurde die Waffenlobby gestärkt und nicht die Entwicklungszusammenarbeit.
Die Forderung, die Anlandungen zu verhindern, weil „alle hierher kommen“ findet weiterhin Zuspruch. Dabei ist die einzig wahre Tatsache die, dass Italien verarmt, weil jedes Jahr viele junge Menschen unser Land verlassen. Der letzte Idos-Bericht spricht von 285 Tausend ins Ausland emigrierten Italiener*innen. Also sehr viel mehr Ausreisen als Ankünfte, und um bei der unsinnigen Logik des „zuerst die Italiener*innen“ zu bleiben, haben die Ankünfte dagegen den Verdienst, unsere verlassenen Gegenden im Landesinnern und seine nur noch von alten Menschen bewohnten Dörfer wieder zu beleben. Vergessen wir dabei nicht, dass wir mit dieser Politik gegen internationales Recht verstoßen: die UN haben mitgeteilt, dass „Italien mit ihrer Politik die Menschenrechte und internationalen Verpflichtungen missachtet“.

Es gibt keine Aufnahme mehr

Das Aufnahmesystem ist zerstört worden, wie eklatante Beispiele aus unserer Gegend beweisen. Immer mehr Migrant*innen werden obdachlos, weil der Widerruf ihrer Aufnahme durch die verschärften Bestimmungen und der gleichzeitig herrschenden Verwirrung ob der Gültigkeit des Sicherheitsdekrets, dem Decreto Sicurezza, ermöglicht wird. Die Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen haben so freie Hand. Viele Einrichtungen überleben nur, weil sie qualifiziertes Personal und Mediator*innen entlassen haben. Nur das Sicherheitspersonal bleibt, die Unruhe stiften und die Bewohner*innen provozieren, mit dem Resultat, dass sie die Zentren verlassen müssen und so ihr Aufnahmerecht verwirken.

Die unsichere Situation ist auch den zurückgezogenen Ausschreibungen geschuldet, wie es beispielsweise in den Fällen der Präfekturen Palermo und Agrigento geschehen ist, oder neue Ausschreibungen die noch veröffentlicht werden müssen, wie die der Präfektur von Trapani. Die Präfektur von Agrigento hingegen hat die Ausschreibung ausgesetzt, die kurz vor der Bekanntmachung der neuen Vertragsbedingungen für Aufnahmeeinrichtungen letzten November veröffentlicht worden war. Die neuen Vertragsbedingungen hatten zur Folge, dass das Ministerium drastisch die Mittel für Einrichtungen gekürzt hat. Aus diesem Grund werden die Zentren unter den alten, am 31. Dezember abgelaufenen Verträgen weitergeführt, für die keine Verlängerung unter den vorher gültigen Bedingungen vorgesehen wurde, in der Hoffnung auf eine neue Ausschreibung.

Von den Betreibern wird nun erwartet, dass sie Verlängerungsverträge unterzeichnen, die jedoch nur gültig sind mit den neuen Vertragsbedingungen. So wird Chaos gestiftet, das nur Unsicherheit bringt und Menschen, die bereits seit Jahren in Aufnahmeeinrichtungen leben, in neue Verhältnisse ohne jegliche Logik katapultiert.
So im Fall der Frauen aus Nigeria, die vermutlich Opfer von Menschenhändlern sind, die nach Jahren im CAS* Coesi in Trapani infolge von dessen Schließung ins CARA* von Pian del Lago „zurückversetzt“ werden – aus logistischen und psychologischen Gründen eine fatale Situation.
Oder die Migrant*innen im CARA* von Mineo, die in verschiedene CAS* in Palermo, Trapani oder Agrigento überführt werden. Auf der einen Seite verlieren die Zentren Personen aufgrund von Widderufungsklagen, auf der andern werden die Zentren wieder „gefüllt mit neuer Ware“, wie sich ein Betreiber dieser Zentren auszudrücken pflegt und uns von einigen der Gäste berichtet wird.
Zudem werden viele sich illegal auf italienischem Boden aufhaltende Tunesier*innen aus ganz Italien auf erhebliche Staatskosten und unter Polizeischutz ins CPR* Milo in Trapani rücküberführt.
Während, zum Beispiel, die mit Razzien aufgespürten Menschen aus dem Senegal oder aus Pakistan in Agrigento ins CPR* nach Caltanissetta gebracht werden, falls es dort Platz gibt, sonst werden sie mit einem Abschiebungsdekret wieder freigelassen, denn mit Pakistan und dem Senegal gibt es kein Rückübernahmeabkommen. So sind das Leben auf der Straße und die Unsichtbarkeit, die in die Ausbeutung führt, für diese Menschen die bestmögliche Entscheidung. Auf der anderen Seite wird diese Situation instrumentalisiert, um weiter diese Politik des Hasses zu betreiben.

Missbrauch durch die Institutionen und durch andere Akteure

In den letzten Monaten haben wir anonyme Hinweise erhalten aus einigen CAS*, die wir an die zuständigen Behörden zu Aufklärung weitergeleitet haben: Mäuse und Kakerlaken in den Küchen, Schimmel, Warmwasser nur während zwei Stunden am Tag, keine Heizung. Italiener*innen, die von den unsicheren Zukunftsaussichten der Migrant*innen in den CAS* profitieren, um sie als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder für andere Hilfsarbeiten zu beschäftigen. Asylsuchende, die aus Angst vor den Folgen keine Anklage erheben und die häufig über diese Vorfälle berichten, als wenn sie jemand anderen beträfen. In unseren Augen geschieht dies, weil die Betroffenen erst versuchen wollen zu verstehen, ob sie Opfer von Ausbeutung geworden sind oder aber ob sie sich irren und sie diese Behandlung verdient haben in unserem ach so zivilisierten Europa. Viele der Ausbeuter sehen sich nämlich als Wohltäter: „Ich lasse sie arbeiten, gebe ihnen etwas Geld, sie sollten ihr Leben lang dafür dankbar sein.“

Die gleiche Einstellung herrscht auch in vielen Präfekturen, in denen einige erklärt rassistische Vorgesetzte sich durch diese Politik ermutigt und bekräftigt sehen, ihre Beschränktheit offen zu zeigen. Ungerechtfertigte Rückführungen, kaum verschleierte Vergeltungsmaßnahmen um die Aufnahme von Menschen mit offensichtlichen psychischen Problemen zu verhindern, das Verlangen von unnötigen oder nicht gesetzlich vorgeschriebenen Dokumenten um den Rechtsweg zu komplizieren – das sind nur einige der unrechtmäßigen Praktiken, die uns täglich berichtet werden.

Menschenhandel

Was diese Politik aber tatsächlich möglich gemacht hat, ist die zunehmende Verbreitung von illegalen Machenschaften und die Erschaffung neuer Möglichkeit für jene, die seit jeher an den Migrant*innen ihren Gewinn erwirtschaften wollen. Ein Musterbeispiel dafür sind seit langem die falschen Wohnsitzbescheinigungen und falschen Arbeitsverträge, Praktiken, die wir bereits mit der gefälschten Regularisierungswelle von 2009 erlebt haben. Dieses Vorgehen scheint in Städten wie Caltanissetta und Syrakus wieder üblich zu sein, wo die Wohnsitzbescheinigungen 500 Euro und die Arbeitsverträge zwei bis drei Tausend Euro kosten.

Zurzeit scheinen diese Szenarien das zu übertreffen, was wir seit langem wissen. Anonyme Zeug*innenaussagen (die wir prüfen werden) berichten, dass ein unbegleiteter Minderjähriger für die Betreiber von Aufnahmeeinrichtungen eine „Investition“ mit einem Wert zwischen 100 und 200 Euro darstellen kann. Sie locken die Jugendlichen gegen Geld in ihre Zentren, denn bei ihnen würden sie besser leben. Sie raten ihnen, „sich zu beschweren“ damit sie in ihre Aufnahmezentren überwiesen werden, wo sie mit einem „falschen“ Verwandten zusammenleben könnten.
Noch schwerwiegenderes ereignet sich, wenn Migrant*innen von einem Zentrum, das geschlossen wird, in eines, das weiter betrieben wird wechseln müssen. Auf einer Art Versteigerung verkauft der Betreiber des schließenden Zentrums den nahegelegenen weiter bestehenden Zentren die Minderjährigen für einen Preis von 300 bis 400 Euro.

Das ist es, was diese Politik hervorgebracht hat: Menschenrechtsverletzungen, Betrug, Lügen und die Zerstörung der Aufnahmepolitik. Das verursacht Unsicherheit und Instabilität auf unserem Territorium. Herzlichen Glückwunsch!

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CARA – Centro Accoglienza per Ricchiedenti Asilo: Erstaufnahmezentrum für Asylsuchende
*CAS – Centro di Accoglienza Straordinaria: außerordentliches Aufnahmezentrum – nicht vorgesehenes Notfallaufnahmezentrum
*CPR – Centro per il Rimpatrio – Zentrum zur Rückführung

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera