Notfälle erfinden, um Rechte auszuhebeln und wahre Probleme zu verdecken

Wir sind im Krieg, in einem schmutzigen Krieg, in dem auf der einen Seite Goliath die ökonomische, finanzielle und militärische Macht hält und David – die Armen, Ausgebeuteten, Marginalisierten – auf der anderen Seite steht.
Zwischen diesen Fronten stehen wir. Wir sind hin- und hergerissen zwischen der Fraktion von Goliath, die Macht und Privilegien verspricht, und der anderen Seite, die ein Leben in Freiheit und Würde bereithält.
Es handelt sich aber um einen ungerechten Krieg, denn Goliath benutzt Gewalt, Geld, militärische Mittel und Propaganda, während David noch nicht einmal weiß, dass er sich im Krieg befindet.

Allerdings können wir den Unterschied machen, und es ist Zeit, aus der Lähmung aufzustehen, unsere Ängste beiseite zu räumen und zu entscheiden, auf welcher Seite wir stehen. Denn Goliath tritt mit seiner Selbstherrlichkeit, Arroganz und Dämlichkeit auf den Rechten aller herum. Er zerstört die Grundpfeiler der europäischen Demokratien, geboren aus den Trümmern des Faschismus und des Nazismus. Dieser globale Krieg meldet täglich Opfer, viele mehr, als sie uns glauben lassen wollen: Tote im Meer, in der Wüste und in den lybischen Gefängnissen.

Es ist ein Krieg, der auch auf unserem Boden tötet, auf dem Land, in den Arbeitsplätzen. In Italien stirbt man noch an Arbeit. Alle vergangenen Regierungen haben die Arbeiter*innen zu Grunde gerichtet, ihnen ihre Rechte genommen und damit die Grundlage für unheimlich starke soziale Konflikte geschaffen, die Xenophobie und den Rassismus befeuern.
Das Wirtschaftssystem braucht helfende Arme, um sich auf den Beinen zu halten. Darum möchte es nicht, dass von Menschen und der Wahrung ihrer Rechte gesprochen wird.

In der sizilianischen Landwirtschaft hat Goliath seine Waffen verfeinert: die arbeitenden Migrant*innen werden zu bloßen Objekten reduziert, ohne menschliche Würde. In diesen Tagen wird in Alcamo die Traubenernte durchgeführt, sie findet bis Anfang Oktober statt. Wie jedes Jahr hat die Gemeinde die Vergabe an Unternehmen durchgeführt, die in der örtlichen Sporthalle 70 Arbeiter*innen empfangen sollen. Um eine heiße Dusche und eine warme Mahlzeit von der Caritas nehmen zu können, muss man Aufenthaltsdokumente und 2 Euro bereithalten können.

Auch in diesem Jahr hat Badia Grande den Zuschlag erhalten. Badia Grande ist eine Kooperative, die in ganz Italien Aufnahmezentren betreibt. Wer nicht die Voraussetzungen erfüllt, um in der Sporthalle unterzukommen, muss auf offener Straße schlafen, in Seitenwegen der Piazza oder an verlassenen Orten, um zu vermeiden, dass er*sie sichtbar wird. Und gerade aufgrund dieser Unsichtbarkeit sterben Menschen, so wie der junge Tunesier vor ein paar Tagen in Alcamo, der von einer Treppe eines verlassenen Gebäudes runterstürzte. Das Gebäude wird als nächtlicher Unterschlupf von den Unsichtbaren genutzt, von ebenjenen, die tagsüber ausgenutzt werden und nachts verschwinden müssen.

Im nahegelegenen Campobello fängt in 15 Tagen die Olivenernte an. Die Situation dort ist kritischer in diesem Jahr, im Wissen aller wird sie als Ausnahmezustand gehandelt – ein selbstverschuldeter, struktureller Ausnahmezustand, der pünktlich ins Leben gerufen wird. Die Polizei hat angefangen, leerstehende Gebäude zu räumen, geschlossene Fabriken oder Lagerhallen, die die Arbeiter*innen besetzt hatten, um nicht nachts auch noch unter freiem Himmel zu schlafen, nachdem sie am Tag für 3 Euro pro Stunde schuften müssen. Die Räumungen sind von oben angeordnet worden, um die sicherheitspolitische Propaganda zu nähren. Bedauerlich ist, dass seit 15 Jahren solche Gesetze, die die Arbeitgeber*innen davon abhalten, die Olivenernte ohne Vertrag durchzuführen, ohne Rechte für die Arbeiter*innen und mit einem Hungerlohn, nicht durchgesetzt werden. In diesem Jahr wird die Lage noch komplizierter: bisher hatte die Zivilgesellschaft die Lücken gefüllt, die durch peinliche Defizite der Institutionen entstanden waren. Für die Arbeiter*innen stehen die Zelte von „Fontane d’Oro“ nur maximal vier Tage für hundert Menschen offen, die vier Zelte des Roten Kreuzes nehmen nur dreißig Menschen auf.

Die Arbeiter*innen müssen 3 Euro pro Tag zahlen, aber es gab keine offizielle Ausschreibung und keiner kennt die Verantwortlichkeiten bei den Betreibern. Die Waschräume sind nicht von der Gemeinde renoviert worden und befinden sich in ekelerregenden Zuständen, ebenso wie die Duschen, die nur kaltes Wasser haben, weil die Gelder der Gemeinde Campobello di Mazara ergebnislos verschwendet worden sind. Außerdem fehlt die Caritas, die wie in Alcamo warme Mahlzeiten anbietet.

Auch in diesem Jahr sieht das Landwirtschaftsamt in Trapani 4 Euro pro Tag pro Arbeiter*in vor, um den Sicherheitsbedarf der Arbeiter*innen abzusichern. Dies ist wieder eine offene Hand gegenüber denen, die in der Regel die Arbeitskraft ausbeuten. Die Gewerkschaften wollen in den vergangenen 15 Jahren keine Ausnutzung gesehen haben, sie haben nie ihre Stimme erhoben, haben auch jetzt nichts zu sagen. Die Präfektur hat eine eigene, harte Linie entwickelt: Auf der Straße übernachtet niemand, denn die Befehle kommen von oben und sind sehr präzise. Aber die Oliven müssen nun einmal geerntet werden, und deswegen muss man härter zu den Schwachen sein. Die Arbeiter*innen sollten in den Fabriken beherbergt werden, und um den Fabriken entgegenzukommen, sollten übergangsweise Zelte auf den Feldern aufgestellt werden. Wer aber wird den Zustand dieser Zeltstädte und die Lage vor Ort kontrollieren? Im jetzigen Zustand eines totalen Chaos weiß man noch nicht einmal, welche Firma bis auf eine bereit wäre, Arbeiter*innen aufzunehmen.

Derweil verschlimmert sich die Lage in den Zentren weiter: in den kommunalen Aufnahmesystemen auf freiwilliger Basis (SPRAR) sollte schon im Juli der Startschuss gegeben werden. Bisher liegt alles lahm, weil es an einer Unterschrift des Innenministers fehlt. Die SPRAR, die schon eröffnet sind, warten auf Zahlungen und versetzen die Betreiber in Schwierigkeiten, sodass diese Verwirrung unter den Bewohner*innen stiften. Vor zwei Tagen haben die Bewohner*innen eines Zentrums in Palermo rebelliert, weil das Taschengeld nicht ausgezahlt wurde. Eine Verantwortliche legte den Aufstand lahm, indem sie den Leuten erzählte: „Wir sind genauso arm wie ihr, wir sitzen im gleichen Boot, uns zahlen sie auch nicht aus“.

Was die CAS angeht – die außerordentlichen Aufnahmezentren – so setzt die örtliche Verwaltung Richtlinien um, wonach die überschüssigen Zentren geschlossen werden sollen, auch wenn diese versuchen, auch nur irgendwie zu funktionieren. Und so werden Menschen wie Postpakete umhergeschoben, ihr Ziel sind Einrichtungen, die besonders weit von städtischen Zentren entfernt sind, damit sie sofort unsichtbar werden.
Einige Betreiber vervielfältigen ihre Tätigkeitsbereiche trotz der Schließungen und des erschwerten Betriebs. So hat die Firma „Facility Service“ den Hotspot in Lampedusa in Betrieb genommen, derselbe, der eigentlich geschlossen werden sollte und von der neuen Firma weiter betrieben wird. Wir haben schon darüber berichtet, welche Schwierigkeiten “Facility Service“ in Ciminna hatte. Wie uns berichtet wurde, hat sich in Lampedusa der neue Betreiber dadurch ausgezeichnet, dass es einen Mangel an Medikamenten und Bettlaken gab. Glücklicherweise gäbe es nicht allzu viele Fälle, sodass kein Notfall entstanden ist. Der neue Betreiber hält die Einrichtung aufrecht, obwohl der Hotspot renoviert wird. Die Tunesier*innen, die dort ankommen, werden erst dort für ein paar Tage festgehalten, bis sie zum Hotspot in Milo kommen, wo sie je nach zugewiesener Kategorie (Heimkehrende, Abgeschobene oder – mit viel Glück – Asylberechtigte*r) aufgeteilt werden.

Ein letzter vernichtender Schlag für das, was im System noch funktioniert: es ist gestern von der Regierung ein Dekret beschlossen worden, welches, sollte es trotz der offensichtlichen verfassungsrechtlichen Mängel wirksam werden, das bestehende Chaos und die unsichere rechtliche Lage der Menschen verschlimmern und sie ihrer Würde berauben. Mit dieser Aussicht haben schon sehr viele Asylsuchende zu kämpfen, weil sich in den Zentren herumgesprochen hat, dass ihnen keine Zukunft verbleibt und ihnen keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden wird. In manchen Zentren sind die Bewhner*innen sogar von den Betreibern versammelt worden, um ihnen zu verkünden, dass sie keinerlei Hoffnung auf Bleiberecht haben und sich entscheiden sollen, was sie zu tun gedenken. Das hat zu Panik und Verzweiflung geführt.

Goliath ist stark und skrupellos, während David immer weiter versinkt. Nur wir, die in der Mitte stehen, können entscheiden, dass wir jene unterstützen, die tiefer als wir stehen und eine gemeinsame Front gegen diejenigen bilden, die uns ausnutzen und aushungern lassen. Es ist an uns die Demokratie zu verteidigen, die Verfassung und das Leben. Wir können Kraft schöpfen aus dem Willen zur Freiheit, den die vielen jungen Menschen versprühen, wenn wir ihnen auf der Straße begegnen.

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Freialdenhoven