Gewalt und Widerstand während des sizilianischen Sommers

Artikel vom 16. September 2021

Trotz der anhaltenden Pandemie hat die Einwanderung wieder einmal den sizilianischen Sommer bestimmt und die mediale und politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Migration hat das übliche Theater um die politischen Anklagen und die Notstandsrethorik beginnen lassen. Neben der politischen Auseinandersetzung zwischen Innenministerin Luciana Lamorgese und Lega-Chef Matteo Salvini und den paternalistischen Worten des früheren Innenministers Marco Minniti, wie man den afrikanischen Kontinent „managen“ kann, erzählt die sizilianische Realität von neuen Grenzen des Gesundheitsdienstes, Entrechtung, Tod aber auch und vor allem von Widerstand.

 

Nachrichten von den kleineren Inseln

Begonnen hatte der Sommer mit der hundertsten Tragödie: In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni war nur wenige Meilen vor der Küste von Lampedusa ein Boot gesunken. Neun Menschen sind ertrunken, die meisten von ihnen Frauen. Die Leichen, wenn sie auch gefunden wurden, wurden nicht aus dem Meer geborgen.

Ab Juli zeichnete sich auf Lampedusa eine Überlastung des Systems „Hotspot und Quarantäneschiff“ ab. Wegen der vielen Ankünfte, die meisten davon erfolgten autonom, füllten sich sowohl die Hotspots (Erstaufnahmezentren) als auch die Quarantäneschiffe und die Geflüchteten wurden in Schnellbooten wieder direkt nach Pozzallo gebracht. Das wiederum hat dazu geführt, dass Aufnahmeeinrichtungen auf Sizilien, wie die Villa Sikania, ebenfalls bald überfüllt waren. Ende August waren im Hotspot über 1.500 Personen untergebracht. Wegen des Gesundheitsrisikos und der sanitären Notsituation im Zentrum sprach Legambiente von einem Gesundheitsnotstand. Im Zentrum Contrada Imbriacola wurde eine offene Mülldeponie angelegt. Mehrmals wurde behauptet, dass auch die Abwässer der an Covid-19, Diphtherie und in Vergangenheit auch Tuberkulose Erkrankten in die Kanalisation gelangen.

Solange „nur“ die Gesundheit der Bewohner*innen des Hotspots gefährdet ist, besteht wenig Interesse für das Problem. Das ändert sich erst sobald der Tourismus und die öffentliche Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, die vor den „ausländischen Krankheiten“ geschützt werden müssen. Erst dann kommt Interesse für das Thema auf. Obwohl Lampedusa während der Sommermonate 60.000 Menschen registrierte und das Abwassernetz auch andernorts platzte, weil es von den Tourismustreibenden  schlecht gewartet wurde, wurde die Schuld in der politischen Debatte wieder nur dem Hotspot zugeschrieben und dem dadurch entstandenen Risiko für die öffentliche Gesundheit.

Nicht nur auf Lampedusa sind Boote und Menschen angekommen. Die soziale und wirtschaftliche Lage in Tunesien hat dazu geführt, dass die Routen der letzten Jahre noch mehr genutzt wurden. Während bereits im Winter und Frühling die Ankünfte auf Pantelleria deutlich zugenommen hatten, im Vergleich zu den Vorjahren, so hat man in diesem Sommer auf der Insel des Elitetourismus bereits von einem „Notstand“ gesprochen.  Obwohl es auf der Insel ein Aufnahmezentrum gibt, eingerichtet auf einem ehemaligen Militärgelände, ist der zur Verfügung stehende Raum limitiert und die Hygienebestimmungen sind schlecht, selbst wenn das Zentrum leer ist. Im Sommer waren hier zu Spitzenzeiten 200 Personen untergebracht und der Bürgermeister rief: „Sie wollen aus der Insel ein Lager für Geflüchtete machen und ich werde mich mit aller Macht dagegen wehren.“ Die Politiker der Opposition forderten hingegen „den Einsatz des italienischen Militärs zur ständigen und kontinuierlichen Überwachung des Zentrums“.

Pantelleria, eine Insel, die internationale Touristen anlockt und mit ihrer Unerreichbarkeit wirbt und gerade deshalb schick ist, aber mit den Geflüchteten nichts zu tun haben will. Wie auf Lampedusa, sind auch hier die Mauern der Aufnahmezentren voller Löcher. Durch sie können die Menschen, die dort festgehalten werden, das Zentrum verlassen, um Zigaretten zu kaufen, einen Spaziergang zu machen oder um ein Telefon aufzutreiben, mit dem sie Nachhause telefonieren können.

Neben Pantelleria haben im Sommer Migrnat*innen auch die Inseln Marettimo und Levanzo erreicht, sowie andere Gebiete Süditaliens, beginnend mit Sardinien aber auch Kalabrien und Apulien.

 

Widerstand gegen die Quarantäne

Im August musste eine Gruppe von Menschen, die von Lampedusa nach Augusta gebracht werden sollten, an Bord eines Quarantäneschiffes gehen. Die Betroffenen betonten allerdings, dass sie bereits auf Lampedusa eine Quarantäne durchgemacht hatten. Sie rebellierten und versuchten sich der Quarantäne zu widersetzten. An Bord des Schiffes setzten sie den Protest fort. Es ist nichts Neues, dass die willkürlichen Praktiken der sizilianischen Präfektur sowie der Ordnungskräfte hinter dem Motiv des „Gesundheitsschutzes“ eine neue Grenze der Diskriminierung und Gewalt gegenüber jenen Menschen aufzubauen versucht, die über das Mittelmeer nach Sizilien kommen. Dieser aktive Widerstand der Migrant*innen, gemeinsam mit dem Druck der Zivilgesellschaft, sind die einzige Möglichkeit, um der Öffentlichkeit die Leiden dieses Systems zu zeigen.

Mitte Juli sind während eines Protestes im Inneren des Hotspots von Pozzallo (das Zentrum wird seit einem Jahr als Quarantänezentrum genutzt) Matratzen in Brand geraten. Von den 120 Personen im Zentrum, konnten 30 das Gelände verlassen. Einige wurden nicht wieder gefunden. Der Widerstand der Migrant*innen, die in diesen zweideutigen Zentren eingeschlossen sind, (Will man hier wirklich die Gesundheit der Personen schützen, indem man sie dicht gedrängt in ein Zentrum steckt, das durch Schranken, Stacheldraht und Kameras überwacht wird?) ist ein Widerstand, für den die Betroffenen ihr Leben riskieren. Zeitungen und Behörden sprechen hingegen von Vandalismus.

In diesem Sommer gab es noch viele weitere Fluchtversuche und Widerstände: In Villa Sikania, in Villaggio Mosé, im Zentrum Contrada Cifali bei Ragusa. In diesen Quarantäneeinrichtungen oder außerordentlichen Aufnahmezentren sind die Bedingungen erniedrigend und für die Bewohner*innen scheint die Zeit still zu stehen, die Zeit wird ihnen „geraubt“. Oft müssen die Bewohner*innen in der Einrichtung bleiben, trotz negativer Coronatests. Von allen Migrant*innen, die diesen Sommer angekommen sind, wurden die Tunesier*innen am schlechtesten behandelt. Sie wurden kriminalisiert und binnen weniger Wochen abgeschoben.

 

Die deutsche Entscheidung (und ihre Heuchelei)

Aus diesem Grund hat ein deutsches Gericht die Rückführung einer Person aus Mali sowie einer aus Somalia nach Italien blockiert. Italien war für die Betroffenen das Erstaufnahmeland der EU, dorthin hätten sie laut dem Dublin-Abkommen zurückgeschickt werden müssen. Das Gericht begründete das Urteil damit, dass das Risiko, dass die italienischen Behörden weder Unterkunft noch Verpflegung der Migrant*innen sicherstellen können, groß ist. Das Urteil fiel auch aufgrund einer Studie, die von borderline europe und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH realisiert wurde. Angesichts dessen, was seit Jahren auf Sizilien und in Italien passiert, sollte ein solches Urteil nicht überraschen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein europäisches Erstaufnahmeland als „unsicher“ eingestuft wird.

Ähnliches passierte und passiert immer noch regelmäßig in Griechenland und auch in Italien ist es schon vorgekommen. Auch wenn das Urteil nicht das erste seiner Art ist, ist es doch das erste Urteil in der Pandemie und es könnte zum Präzedenzfall werden, für andere Krisen. Wir wollen jedoch einen anderen Aspekt unterstreichen: Gemeinsam mit anderen Vereinigungen konnten wir im Bericht “Eu Ad Hoc Relocations” aufzeigen, dass sich Deutschland in den letzten Jahren gegenüber Italien und Griechenland ganz unterschiedlich positioniert hatte. Ging es um Menschen, deren Herkunftsländer ein Rückführungsabkommen mit Deutschland haben, so wurden sie in Deutschland aufgenommen, so dass die Ablehnungsquote von Asyl- und Aufenthaltstiteln für diese Personengruppe über 80 Prozent lag. Gezielte Vereinbarungen im Namen einer nationalen Solidarität, die Rechte ausschließt statt garantiert.

 

Aussichten für das kommende Jahr

Die Vorkommnisse des vergangenen Sommers dienen dazu ein neues Mobilisierungsprogramm zu starten sowie die Gesellschaft zu aktivieren, um die Menschen, die über das Mittelmeer gekommen sind zu unterstützen. Angefangen bei den Tunesier*innen, die am häufigsten kriminalisiert und im Meer zurückgelassen werden. Dabei müssen auch die Mütter und Frauen in Tunesien unterstützt werden, die nach dem Tod ihrer Angehörigen die Wahrheit darüber erfahren wollen. In erster Linie wollen sie wissen, wo sich ihre Leichen befinden. Die Zusammenarbeit der beiden Ufer, nördlich und südlich des Mittelmeers, ist grundlegend, um dieses System zu bekämpfen.

Gleichzeitig ist es wichtig weiterhin zu beobachten, was sich auf der Insel tut. Die beiden Aufnahme- und Abschiebezentren von Trapani Milo und Caltanissetta Pian del Lago haben wieder aufgemacht. Das Monitoring durch die Zivilgesellschaft ist wichtig, um jenen zu helfen, die in den Zentren eingeschlossen sind und um die Gewalt, die es hinter den Mauern gibt anzuzeigen. Viel Aufmerksamkeit benötigt deshalb auch das Aufnahmezentrum von Mineo. Seitdem 700 Afghaninnen und Afghanen im Luftwaffenstützpunkt Sigonella untergebracht wurden, arbeiten im Zentrum von Milo zwei Reinigungsunternehmen und ein Renovierungsunternehmen. Für welchen Zweck sie die Gebäude des Zentrums vorbereiten, ist nicht klar.

Auch der große Touristenandrang auf die Region im vergangenen Sommer sollte an dieser Stelle erwähnt werden, ebenso wie die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Landwirtschaft. Die Olivenernte in Campobello steht vor der Tür. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter haben bereits im Tourismus Arbeit gefunden, oft handelt es sich dabei um keine geregelte Anstellung.

 

Redaktion Borderline Sicilia

 

Übersetzt aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner