Ein Angriff auf die Grundrechte

„Mir geht es schlecht und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Seit sechs Monaten lebe ich in menschenunwürdigen Verhältnissen. Jeden Tag atme ich beim Warmmachen des Wassers Rauch ein. Und das Wasser muss ich für jedes Waschen in drei Kilometer Entfernung holen gehen. Ich verschwende meine Tage an Menschen, die mich ausbeuten, während sie gleichzeitig sagen, sie hätten mich gern. Sie sagen, wenn ich eine Aufenthaltsgenehmigung hätte, würden sie einen Vertrag mit mir schließen und alles regeln, aber so könnten sie mich nicht in der Nähe meines Arbeitsplatzes unterbringen – das Gesetz verbiete das. Wegen meiner 20€ Tageslohn haben sie sich nicht so viele Gedanken gemacht! Es geht mir schlecht, und das hier ist ganz bestimmt nicht das Leben, das ich mir erträumt habe. Vielleicht haben die Leute recht, wenn sie mir sagen, ich solle in mein Land zurückkehren, vielleicht sind sie gar nicht rassistisch, wenn sie mir solche Sätze ins Gesicht schreien, vielleicht meinen sie’s wirklich gut mit mir, vielleicht haben sie verstanden, dass Italien nicht das Beste für mich ist. Aber wie sollte ich zurückkehren?

Wie sollte ich meinen Eltern, die doch seit sechs Jahren Schulden für mich bezahlen, sagen, dass ich zurückkommen will? Weißt du, immer wenn ich ihnen einmal monatlich einen Betrag schicke, und seien es nur 40€, sind sie überglücklich. Das ist der einzige Moment, in dem es mir nicht schlecht geht. Sie denken, dass ich in einem schönen Haus mit allem Drum und Dran lebe – das habe ich ihnen erzählt. Wie könnte ich ihnen sagen: ‚Mama, Papa, ich bin gescheitert, ich will zurück‘? Mir geht es schlecht, ich brauche Hilfe, und wenn ich die [Notrufnummer, A.d.Ü.] 118 wähle, kommt einfach keiner mehr. Letzte Woche sind sie nach sechs Stunden gekommen und sie haben mich angeschrien, weil sie es leid sind, jede Woche hierherzukommen. Bitte, ruf du sie doch an. Vielleicht kommen sie dann schneller. Bitte.”

Die Worte sprudeln nur so aus Tounkara heraus. Er lebt allein unter vier Wellblechplatten, in Campobello, umringt von Asbest und alten, stinkenden Decken. Jeden Tag bekommt er am eigenen Leib die Demütigung eines verbrecherischen Systems zu spüren, das ihn nicht haben will. Die Feuchtigkeit, der Mangel an Essen, die harte Arbeit, aber vor allem die Verwahrlosung, in die unsere Gesellschaft ihn hineingezwungen hat, haben seiner Gesundheit zugesetzt. Aber offenbar können – oder wollen – nicht einmal die Ärzte sein Leiden verstehen, denn Tounkara ist nunmehr Stammkunde in der Notaufnahme. Das haben sie mir letzte Nacht erzählt, als der Krankenwagen 20 Minuten nach meinem Anruf eintraf.

„Siehst du, ich hatte recht. Das Wort eines Weißen genügt und schon setzten sie sich in Bewegung. Ich bin ein Tier für sie, wenn überhaupt, denn sie beachten mich gar nicht. Wenn eine Katze oder ein Hund überfahren wird, sind die Leute schockierter und betroffener. Für mich steht niemand auf. Niemand sieht mich. Für viele bin ich unsichtbar. Alberto, keiner sieht mich mehr, und vielleicht ist es besser so, denn wenn mich jemand so sähe, würde ich mich nur noch elender fühlen. Ich schäme mich zutiefst.“

Als er sich bei mir dafür entschuldigt, mich in der Nacht gestört zu haben, keimt in mir das ungute Gefühl auf, Komplize dieses Systems zu sein. Komplize einer verbrecherischen Gesellschaft, die den Schwächsten vernichtet, den Armen unsichtbar macht, die Muskeln spielen lässt, mit Gewalt regiert und dabei bedenkenlos faschistische Verhaltensweisen an den Tag legt.

Wie mies und dumm diese Politik ist, kann man auch an der Abschaffung der guten Praktiken im Aufnahme- und Unterbringungssystem ablesen. Die auf die jüngsten ministerialen Beschlüsse hin veröffentlichten Ausschreibungen begünstigen ausschließlich diejenigen, die bekanntermaßen schlechte Aufnahme bieten. Mit der dezentralen Unterbringung wurde die einzige Praxis abgeschafft, die den Betroffenen einen wirklichen Nutzen einbringen konnte und der Professionalität vieler – nunmehr arbeitsloser – Beschäftigter im sozialen Bereich Rechnung trug. Diese radikale Kürzung der Dienstleistungen trifft im Grunde diejenigen, denen eine würdige Aufnahmepraxis am Herzen lag. Stattdessen werden heute ausschließlich ineffiziente Einwegmaßnahmen geschaffen, die jedwede Form der Integration von vornherein verunmöglichen und die besten Voraussetzungen für die Ausbeutung sowohl der aufgenommen Migrant*innen als auch der Angestellten schaffen.

Die jungen Prekären und die jungen übers Meer gekommenen Migrant*innen eignen sich gut, um sich in der Landwirtschaft, in irgendeinem Call Center, als Fahrradkurier*innen oder in anderen unterbezahlten Jobs ausbeuten zu lassen. Außerdem kann die schlechte Aufnahmepraxis zurzeit bar jeder Kontrolle triumphieren, denn geblieben sind ja nur die werten Freund*innen aus den Kooperativen, die sich auf Kosten der eigenen Kolleg*innen die Hände schmutzig machen, auf Kosten derer, die ein für den Träger schwer verdauliches Feingefühl haben und die so oder so immer die ersten sind, die ihre Arbeit verlieren. Und wenn du dich dieser Logik nicht anpasst, dann wirst du bestraft. So ist es zum Beispiel dem Verein I Girasoli aus dem sizilianischen Städtchen Mazzarino ergangen: Dessen Kleinbus hat man wohl deswegen in Brand gesteckt, weil seine Mitglieder seit geraume Zeit versuchen, mit Leidenschaft und Achtsamkeit für den Nächsten zu arbeiten, sei diese*r nun Arbeiter*in oder Gast.

Leider kommt es immer häufiger vor, dass ein junger Mann anruft und sagt, er habe die ihm zugewiesene Unterkunft (und damit das Aufnahmesystem) verlassen, denn diese sei leer, isoliert und biete keinerlei Perspektive – ganz genau so, wie die Regierung sich das wünscht. Lamin zum Beispiel hat nicht einmal die Entscheidung der territorialen Asylkommission abgewartet, sondern gleich beschlossen, das Zentrum in Partinico zu verlassen. Hierhin hatte man ihn gebracht, obwohl er doch in einer ganz anderen Stadt die weiterführende Schule besuchte und durch den Umzug den Unterricht nicht weiter besuchen konnte.
Menschen hin- und herschieben wie Pakete. Hirnlose Entscheidungen wie die, ein Aufnahmezentrum für nigerianische Frauen, unter denen sich viele potenzielle Menschenhandelsopfer befinden, mitten im Stadtzentrum von Palermo unterzubringen, das wegen der hohen Dichte von Personen, die mit Menschenhandel zu tun haben, doch wirklich der aller ungeeignetste Ort dafür ist.

In diesem Wettlauf, der den Zweck hat, die Armen zu verstecken und die Rechte der Arbeiter*innen zu vernichten, gibt es auch weiterhin viele, die ihr Leben verlieren, und viele, die verzweifelt nach Angehörigen suchen. Wie Moustapha, der seit zwei Jahren seinen Bruder sucht. Seit er ins Boot gestiegen ist, hat er nichts mehr von ihm gehört. Er sucht ihn weiterhin überall, telefoniert mit sämtlichen internationalen Organisationen und erhält keinerlei Antwort.

Tounkara hat ein paar Stunden auf einem Bett geschlafen, was für ihn derzeit schon an ein Wunder grenzt … „Die Ärzte sind überzeugt, dass ich das tue, um meinen Kopf auf eine Tragbahre legen zu können, aber glaub mir, so ist es nicht. Mir geht es wirklich schlecht.“

Wir glauben ihm.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack