Minder erhörte Stimmen

Gestern ereignete sich eine weitere Flüchtlingskatastrophe, die
Vielen vor den türkischen Küsten den Tod gebracht hat, als diese den verzweifelten
Versuch unternommen hatten, Gewalt und einem sicheren Tod zu entkommen, und in
der Hoffnung waren an einen Ort zu gelangen, an dem das Überleben kein
tägliches Problem darstellt. Unter ihnen sind einige Kinder, deren Todeszahlen konstant
ansteigen und auf die sich die mediale Aufmerksamkeit immer mehr
konzentriert. Bilder des Schmerzes und des Kummers, die bloß stillen Respekt
und eine ernsthafte Reflektion verdienen, aber anstelle dessen
instrumentalisiert werden, um Mitleid anzuregen und erfolgreich Nachrichten zu
verkaufen, in Artikeln, die alles bezwecken, außer korrekte Informationen zu
liefern.

Wenn sich die öffentliche Meinung inzwischen an die Toten und
Tragödien im Meer gewöhnt zu haben scheint, konzentrieren sich die Medien auf
immer gewaltvollere und schockierendere Details, die lediglich den Skandal und
nicht eine echte Bewusstseinsschaffung bewirken sollen. Den Daten der IOM
(Internationale Organisation für Migration) zufolge, erreicht die Zahl der
Toten im Mittelmeer im Oktober einen Durchschnitt von sieben Menschen am Tag.
Eine Katastrophe am Tag, in Angesicht derer die Meisten nur in der Lage sind,
die Kindesopfer zu bemitleiden und sich davor hüten zu verstehen, was diese in
den Tod geführt hat, was die anderen Jugendlichen, die es zum Glück geschafft
haben anzukommen, in unserem Land erleben, und vor allem was wir alle
unmittelbar verpflichtet sind, zu tun.

Auch die Minderjährigen verwandeln sich schnell in Zahlen und
werden als solche behandelt, von dem Moment an in dem sie einen Fuß in Italien
setzen bis verschiedene Aufnahmezentren die Verantwortung für sie übernehmen,
die oft aufgrund der höheren Subventionen ein lohnenderes Geschäft in ihnen
sehen, im Vergleich zu den Erwachsenen.

Minderjährig sind tatsächlich auch einige Flüchtlinge, die in
diesen Monaten abgeschoben wurden, im Laufe der unrechtmäßigen und
diskriminierenden Aufteilungen, die die Polizeikräfte bei der Ankunft der
“Wirtschaftsflüchtlinge” und der potentiellen Asylbewerber*innen durchführen.
Vielen von ihnen wird noch nicht einmal geglaubt, wenn sie ihr Alter angeben
und sie Dokumente vorzeigen, die es bezeugen. Stattdessen werden sie als
Erwachsene registriert und auf die Straße befördert, wo die Welt der Ausbeutung
und der illegalen Geschäfte auf sie wartet. Die jüngsten rechtswidrigen
Zurückweisungs- und Abschiebungspraktiken wirken funktional zu dem Anstieg der
zur Verfügung stehenden “Arbeitskräfte”, während in den Regierungsgebäuden von
Aktionen gegen den Menschenhandel gesprochen wird. Die Jugendlichen schließen
sich vielen gleichaltrigen Migrant*innen an, die seit Jahren die Warteschlangen
auf Schwarzarbeit vergrößern, während sie zermürbt auf Dokumente warten, in den
Aufnahmezentren, die in erster Linie ihre Zukunft schützen sollten. Die
Situation und die Rebellionsversuche dieser Jugendlichen bringen sicher kein
Geld und lassen sie nicht die ersten Seiten der Zeitungen erreichen. Sie können
hingegen die Masken der Wohltäter, die von vielen Akteuren im System der
Aufnahme getragen werden, enthüllen, oder zumindest die Heuchelei so mancher
Aktionen hervorheben, die auf den erbärmlichen Mechanismus des Sozialstaates
ausgerichtet sind, um dem ausschließenden und exklusiven System zu nützen.

So verschwinden auch die Erfahrungen der Jugendlichen im
Schweigen, die gezwungen sind, ganze Wochen innerhalb des CPSA* und künftigen
Hotspots von Pozzallo zu bleiben, wo systematisch Praktiken umgesetzt werden,
die das Asylrecht und jegliche Grundrechte verletzen, zunächst durch das Fehlen
einer angebrachten Rechtsberatung, außerdem durch die willkürliche Aufteilung
von Migrant*innen, die Schutzens würdig sind, und solchen, die es demnach nicht
wären, zuletzt mit dem illegitimen Aufhalten verletzlicher Individuen in einem
entschieden unangebrachten Ort, den sie nicht einmal verlassen dürfen. Die
neuen Richtlinien, die eine mögliche Gewaltanwendung bei der Abnahme von
Fingerabdrücken und eine immer wichtigere Rolle der CIE* in Aussicht stellen,
belegen den Ernst der Situation.

Wir wissen, dass aktuell das CPSA in Pozzallo Dutzende
Jugendliche beherbergt, die im letzten Monat mit dem Boot angekommen sind und
darauf warten, an einen angebrachten Ort weiterversetzt zu werden. Die
Versetzung sollte nach dem Gesetz nach 48/72 Stunden und in jedem Fall
innerhalb kürzester Zeit, vor allem für verletzliche Individuen, erfolgen. Aber
diese Frist wird systematisch nicht eingehalten. Wir können uns das höchst
angespannte Klima nur vorstellen, das in der Einrichtung herrschen mag, wo bis
vor einigen Tagen noch Restaurierungsarbeiten der Bäder und einiger
Aufenthaltsorte im Gange waren, und aus dem einige Jugendliche es versuchen und
schaffen zu “fliehen”, wie sogar von Save
The Children
hervorgehoben wurde, die an die somalischen und eritreischen
Jugendlichen erinnern, die letzten Donnerstag vom CPSA geflohen sind. Ärzte ohne Grenzen (MsF) hat die
Situation im CPSA in Pozzallo angezeigt, mit einer detaillierten Erklärung der
Bedingungen unter denen die Migrant*innen im Zentrum leben, und den Bericht der
Parlamentarischen Ermittlungskommission für Asylfragen präsentiert. Aber bisher
scheint sich nichts in eine bessere Richtung zu bewegen.

M., ein aus der Elfenbeinküste stammender Jugendlicher, der am
5. Oktober in Italien angekommen ist, hat ganze vier Wochen im CPSA von
Pozzallo verbracht, bevor er in ein Zentrum für Minderjährige versetzt wurde,
wo wir ihn kennenlernten. Nun besucht er einen Italienischkurs in einem
angrenzenden Dorf und scheint wieder etwas Vertrauen in sich ihm nähernde
Menschen zu setzen, wenigstens um ein paar Worte zu wechseln, und überwindet
seinen anfänglichen Argwohn gegenüber neuen Mitarbeitern des Zentrums und
Freunden, die er gefunden hat. “In Pozzallo konnte ich nichts machen. Nur
schlafen und warten, aber ich wusste nicht einmal worauf. Ich habe nicht
erwartet, dass ich weiterhin die Not hätte, zu fliehen, nachdem ich mit dem
Schiff angekommen bin.” Wenige Worte, die den Ernst der Lage zu verstehen geben
und wie unmenschlich die Stille der Institutionen gegenüber den
offensichtlichen Rechtsverletzungen ist, die sogar zu rechtfertigen versucht
werden. Die Stimmen des Protests und der Anzeige von Dutzenden von
Jugendlichen, die wir getroffen haben, werden von diversen Akteuren des
Aufnahmesystems oft ignoriert oder, schlimmer noch, als “übertrieben”
eingeschätzt. Der Gesetzesbruch wird zu einer gängigen Praxis und die
Jugendlichen verwandeln sich plötzlich in Zahlen, nicht Menschen mit einer
Vergangenheit und einer Zukunft, die noch zu realisieren ist, nicht
meinungsfreie Subjekte, die des Zuhörens würdig sind und mit denen sich
auseinandergesetzt werden muss, um die starken asymmetrischen Beziehungen zu
unterbrechen, die sich bilden.

Wie andere Migrant*innen bemühen sich somit auch die
Jugendlichen Beziehungen und Lebensbedingungen zu erreichen, die einen
unbegrenzten Aufenthalt in Italien zum Ziel haben. Oft trägt die Tatsache,
minderjährig zu sein, zu einer Verlängerung der Bearbeitungszeit der Prozedur
zur Dokumentenausstellung bei, wegen der bürokratischen Hindernisse, wenn es
doch eigentlich das Gegenteil sein sollte. Und es kommt immer noch zu oft vor,
dass Jugendliche, die eine Aufenthaltserlaubnis nach 12 oder 15 Monaten
erhalten, weder die italienische Sprache noch das sie umgebende Gebiet kennen,
da sie in isolierte Zentren verbannt und beim Warten alleingelassen werden. Es
kommt also vor, dass in manchen kleinen Zentren im Kalatin oder im sirakusischen
Hinterland, in Dörfern wie Ramacca oder Francofonte, Pubertierende oder nahezu
Volljährige ihre Tage auf den Feldern verbringen und Geld ansparen, um das Land
zu verlassen. Das Fehlen eines Aufnahmeprojekts, das auf eine zukünftige
Integration der Jugendlichen und deren Interaktion mit der umliegenden
Gesellschaft hinarbeitet, manifestiert sich bereits im Standort der Zentren.
Diese Aspekte scheinen jedoch nicht von den Präfekturen erkannt zu werden, da
die Einrichtungen, die in den Städten angesiedelt sind, in der Minderheit
liegen. “Ich habe meine Dokumente und jetzt gehe ich in die Schule, aber auch
in der Klasse sind wir alle Flüchtlinge. Ich kenne hier niemanden, weil sie im
Dorf ziemlich rassistisch sind. Wenn sie uns auf der Straße begegnen,
beschimpfen sie uns und niemand nähert sich uns wirklich an. Sowohl die
Erwachsenen als auch die Jugendlichen”, sagt D., der seit ungefähr 5 Monaten in
Ramacca wohnt, nachdem er im Laufe eines Jahres von einem Zentrum ins Andere
versetzt wurde, während er darauf wartete, sein Schutzgesuch formal
einzureichen. “Vorher war ich in einer Art Käfig, aber mit vielen Menschen”,
sagt hingegen C., der seit Kurzem volljährig ist und eine kurze Zeit im CARA*
in Mineo verbracht hat, um daraufhin in Francofonte anzugelangen: “Hier bin ich
einer guten Einrichtung, aber der Käfig ist das Dorf. Man kann sich nicht
bewegen, es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel, und die Menschen sind
schlecht zu uns. Ich weiß, dass die Menschen sich so verhalten, weil sie
ignorant und dumm sind, das haben sie mir auch in der Einrichtung erklärt, aber
wie kann ich dann mit ihnen leben? Wie finde ich Arbeit, wenn es Rassismus
gibt?”

Diese Ausgrenzungserfahrungen addieren sich gefährlicherweise zu
denen, die vor der Ankunft erlebt wurden, und gewaltvoller werden, je
unerwarteter sie für diejenigen sind, die das Leben riskiert haben in der
Hoffnung, ein freies und demokratisches Land Europas zu erreichen.
Entschlossene Stimmen, die sich im Wind verlieren, da sie zu unangenehm sind,
um aufgenommen zu werden. Viele sind bereit, ihre Empörung zu verkünden,
angesichts der Fotos der toten Minderjährigen im Meer, aber gleichzeitig
schnell darin, die Augen und die Ohren denen gegenüber zu verschließen, die
überlebt haben und bloß ein besseres Leben suchen.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia Onlus

Übersetzung aus dem Italienischen von Alina Dafne Maggiore

*CSPA – Centro di Soccorso e prima Accoglienza: Zentrum zur
Ersten Hilfe und Erstaufnahme.

*CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft

*CARA – Centro di accoglienza per richiedenti asilo:
Aufnahmezentrum für Asylsuchende