Das CAS* „Liberi Tutti“ von Partinico. Nach Monaten der Nachlässigkeit und der Verletzung von Rechten, endlich die Schließung

Artikel vom 05. Mai 2022

Das außerordentliche Aufnahmezentrum (CAS)* „Liberi Tutti“ von Partinico in der Provinz Palermo, das von der Kooperative „Liberi Tutti“ verwaltet wird, wurde Anfang März nach mehrfachen Kontrollen seitens der Behörden geschlossen.

Die Schließung des Zentrums überrascht uns nicht, weil wir drei – inzwischen ehemalige – Bewohner des CAS getroffen haben. Wir haben ihren Aussagen zugehört, in denen sie Zustände beschreiben, die unter den Mindeststandards für die Aufnahme der Asylsuchenden, der Achtung der Rechte und der Menschenwürde liegen.

Die drei Personen, die wir getroffen haben, benennen wir mit den Phantasienamen Choukra, Mohammad und Rami. Nachdem sie zwei Wochen auf einem GNV*-Fährschiff vor der Küste von Trapani in Quarantäne waren, sind sie in das CAS „Liberi Tutti“ in Partinico verlegt worden.

In ihren Erzählungen werden vor allem das totale Desinteresse und die Vernachlässigung seitens des Betreibers hervorgehoben. Auf ihre berechtigten Anfragen, erste rechtliche Informationen zu erhalten, Zugang zu einer*m Ärzt*in oder Psycholog*in zu bekommen oder hinsichtlich des Umgangs mit ihren Dokumenten auf den neuesten Stand gebracht zu werden, erhalten sie die immer gleiche Antwort: Später. Später, später, später.

Die Aussagen der ehemaligen Bewohner

Die Verschiebung ins Unendliche betrifft nicht nur den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, auf die diese Personen ein Recht haben. Sie betrifft auch die Bedingungen in der Einrichtung, die in den übereinstimmenden Aussagen der ehemaligen Bewohner zur Sprache kommen. Sie berichten davon, dass einige Fenster in den Zimmern der Bewohner*innen defekt seien und sich nicht schließen lassen. Obwohl dieser Missstand dem Betreiber mehrfach angezeigt worden ist und trotz des rauen Klimas in einer bergigen Gegend wie Partinico im Winter, ist auch in dieser Angelegenheit die Antwort immer die gleiche: Später.

Darüber hinaus sagen sie uns, dass die Decken alt, schmutzig und nicht sehr warm waren. Jede Person verfügte nur über eine einzige Decke und musste damit bei geöffnetem Fenster schlafen. Choukra sagt uns, dass er sich wegen dieses Umstands eine heftige Grippe zugezogen hat, die 20 Tage andauerte. Ihm wurde aber verweigert, eine*n Ärzt*in aufzusuchen. Die einzige Medizin, die an alle wegen jedweder Krankheit verteilt wurde, war Paracetamol.

Des Weiteren äußern sie uns gegenüber auch im Blick auf die hygienischen Bedingungen schwere Kritik: 16 Bewohner*innen mussten sich ein funktionsfähiges Bad mit einem Heißwasserbereiter teilen. Choukra erzählt uns, dass er oft um 4 Uhr morgens geduscht hat; denn immer, wenn eine Person geduscht hatte, musste man 4 Stunden warten.

Was die sanitär-hygienischen Bedingungen ebenfalls verschlechterte, war die Tatsache, dass den Anfragen der Bewohner*innen nach neuer Kleidung nicht nachgekommen wurde. Wie üblich war die Antwort: später. Rami erzählt uns von dem Mal, bei dem ihm Mitarbeiter*innen schmutzige Kleidung gebracht hätten. Und es gab nur eine Waschmaschine. Um sie zu benutzen musste man einen Termin machen. Oft musste man Wochen warten, bevor man seine Wäsche waschen konnte.

Die Qualität des Essens, wenn es denn etwas gab, war akzeptabel, da die Bewohner*innen selber kochten. Aber oft fehlten selbst die Grundnahrungsmittel. Rami erzählt uns, dass er an dem Tag, an dem wir ihn getroffen haben, noch nichts gegessen hatte, weil der Kühlschrank seit zwei Tagen leer war. Somit hätte er sein mageres Taschengeld verwenden müssen, um sich zu ernähren. Das Frühstück im Zentrum bestand aus zwei Scheiben Brot und Milch. Milch fehlte aber sehr oft. Einen Mediator, den wir kennen und der die gleiche Erfahrung im selben Zentrum gemacht hat, kommentiert und hebt hervor: „Zwei Scheiben Brot? Ich bin ein Mensch und kein Vogel!“

Fahrlässigkeiten und Misswirtschaft

Als wir die drei Personen getroffen haben, befanden sich diese seit drei Monaten in der Einrichtung. Bis dahin hatten sie, was den Zugang zu den Dienstleistungen angeht, noch keine rechtlichen Informationen von einer*m rechtskundigen Mitarbeiter*in bekommen. Darüber hinaus hatten sie keinen Zugang zu einer*m Fachärzt*in, obwohl z.B. Rami schwere gesundheitliche Probleme hatte, die im Zusammenhang mit seinem Militärdienst in seinem Land stehen: er leidet aufgrund seiner getätigten Arbeit unter der Wüstensonne an Augenproblemen. Außerdem hat er Magenprobleme, die einen Besuch bei einer*m Spezialist*in erfordern. Choukra erzählt auch, dass er mehrmals auf dem Land schwarzgearbeitet hat, ohne jeglichen Schutz und mit dem Risiko, ausgebeutet zu werden.

Kurz vor einer Inspektion der Präfektur, so haben es uns die drei ehemaligen Bewohner erzählt, habe die Betreiberfirma begonnen, die Zimmer zu reinigen und die Wände zu streichen. Sie berichten uns, dass das Verhalten der Verantwortlichen des Zentrums ihnen gegenüber während des Besuchs höflich und hilfsbereit gewesen sei – im Unterschied zum sonst gezeigten Verhalten.

Ein sinnbildlicher Fall der schweren Vernachlässigung, bei dem Choukra, Mohammad und Rami den Missmut der Präfektur beobachten konnten, betraf einen älteren Herrn tunesischer Herkunft. Der Herr hat trotz des Drucks seitens der Betreiber, die allen Bewohner*innen befohlen hatten, der Präfektur zu melden, dass alles in Ordnung sei, erzählt, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte, in dessen Folge er nicht in ein Krankenhaus gebracht worden sei.

Choukra erzählte uns von einer Episode, die den Machtmissbrauch durch die Verantwortlichen zeigt: Er ist geimpft, aber ihm ist nie ein Green-Pass ausgehändigt worden. Auf Nachfrage der Präfektur aber hat die Verantwortliche magischerweise den Green-Pass von Choukra hervorgezaubert. Ihm zufolge wollte der Betreiber nicht, dass er in den Besitz des Zertifikats kommt, damit er nicht nach Norditalien fliehen kann. Dadurch würde es einen Bewohner weniger geben und die diesbezügliche wirtschaftliche Zuwendung gekürzt werden.

Das Zentrum für Minderjährige

In demselben Gebäude befindet sich im ersten Stock auch eine Einrichtung für Minderjährige, die von derselben Kooperative verwaltet wird. Aus den Erzählungen der drei ehemaligen Bewohner kann man heraushören, dass das Niveau der Promiskuität in der Einrichtung sehr hoch gewesen sein muss. Sie waren überzeugt, dass es keine wirkliche Trennung zwischen den beiden Gemeinschaften gab.

Die sehr schlechten Bedingungen im CAS und das Fehlen des Zugangs zu fundamentalen Dienstleistungen, die schwere Verletzungen der Rechte der Asylsuchenden mit sich bringen, haben nach einer Reihe von Kontrollen zur Schließung des CAS „Liberi Tutti“ geführt. Die institutionelle Entscheidung findet ihre Bestätigung in den präzisen und übereinstimmenden Erzählungen, die uns die drei Personen, die wir getroffen haben, gegeben haben, nachdem sie, müde und empört, eine andauernde Reihe von Verletzungen und Missbräuchen erlitten haben.

An dieser Stelle wäre es angebracht, dass diese Kooperative kein Zentrum mehr leiten darf und dass man verhindert, mit öffentlichen Mittel Firmen zu finanzieren, die absolut keinen Respekt vor den Rechten der Personen haben, die sie beherbergen und denen Professionalität und Transparenz ganz und gar fehlen.

 

Nuvola Galliani

 

CAS – Centro di Accoglienza Straordinaria: Außerordentliches Aufnahmezentrum

GNV – Grande Navi Veloci: Schifffahrtsgesellschaft, die Schiffe für die Quarantäne bereitstellt

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber